Unfreiheit ist keine Lösung – auch nicht im Kampf gegen Corona

Es war das Frühjahr 2020, und plötzlich schien es ein Mittel gegen die schrecklichsten Bedrohungen der Menschheit zu geben. Der Name der Medizin: Autoritarismus. Gerade hatten wir gelernt, dass Pandemien nicht nur Stoff für Katastrophenfilme sind, sondern eine ganz reale Gefahr. Und die sogenannte freie Welt schien dennoch unbegreiflich hilflos gegenüber diesem schon lange diskutierten Szenario.

Institute warnten vor praktisch allem, Talkshows redeten durcheinander, Politiker empfahlen jeweils das Gegenteil des zuvor geforderten und alle gemeinsam schienen gefangen im Dilemma zwischen Grundrechten und Bevölkerungsschutz. Nichts schien voranzugehen auf der demokratischen Hemisphäre der Welt.

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Derweil sperrte Chinas kommunistische Staatspartei schon ganz Städte ab, verfolgte rigoros Infektionsketten und internierte Erkrankte wie Schwerverbrecher.

Auch das weitaus behaglichere aber eben auch autoritär regierte Singapur schaffte es mit umfassenden Ausgangssperren, die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Wenn klar ist, wer das Sagen hat, dann können auch die übermächtigsten Bedrohungen besiegt werden. Klare Vorgaben, kurze Entscheidungswege, kein Gerede und Gezerre – so wird man mit Problemen fertig. Ein Sieg für die Unfreiheit. So schien es.

Autoritäre Weltenrettung

Spulen wir etwa zweieinhalb Jahre vor, in die Jetztzeit. Chinas Bürger sind immer weniger zufrieden mit der autoritären Weltenrettung. Wohl weil Corona-Schutzmaßnahmen die Löschung eines Wohnhausbrandes behindert haben, breitet sich der Protest überall im Land aus.

Zunächst richtet er sich gegen die Zero-Covid-Politik der Regierung – also gegen genau jene Strategie, die zu Beginn der Pandemie noch weltweit Bewunderung geerntet hat. Doch immer mehr werden daraus Demonstrationen gegen das System als solches. Dieser Staat hat als Problemlösungsmaschine versagt, deshalb soll er insgesamt weg. Oder besser: Auch deshalb.

Denn tatsächlich ist die Corona-Politik der Pekinger Führung nicht nur moralisch fragwürdig, sie funktioniert einfach nicht. Während in Deutschland die Infektionszahlen seit dem vergangenen Winter tendenziell sinken, explodieren sie in der Volksrepublik derzeit.

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Revolte in China

Und während sich die Volkswirtschaften fast überall von der Covid-Delle erholt haben, bleibt Chinas semikapitalistische Staatswirtschaft immer noch hinter den Erwartungen zurück. Mehr als fünf Prozent Wachstum waren für dieses Jahr geplant – es werden etwas mehr als drei.

Auch im nächsten Jahr, so die Prognosen von Konjunkturexperten, wird das Plansoll nicht erreicht werden. Offenbar, weil die Corona-Restriktionen Betriebe und Märkte immer wieder lahmlegen. Was einst als Wunderstrategie galt, lähmt die größte Ökonomie der Erde offenkundig mehr als nötig – und stellt damit auch die Sinnhaftigkeit des politischen Systems infrage.

Richtig, autoritäre Regierungen können schneller und durchgreifender handeln als demokratisch gewählte. Das heißt aber nicht, dass sie deshalb richtig handeln. Diese Feststellung ist so naheliegend, dass sie beinahe banal wirkt. In den Debatten des Westens ist sie so früh aus dem Blick geraten durch einen demokratischen Minderwertigkeitskomplex, den wir uns möglichst schnell abgewöhnen sollten.

Streitkultur empfinden wir als Hindernis

Manchmal ertragen wir das Hin und Her unserer politischen Willensbildung nicht mehr und am schwersten fällt es uns in Zeiten unerwarteter Krisen wie am Beginn der Pandemie. Dann empfinden wir unsere Streitkultur als Hindernis, als fatale Strafe für den moralischen Luxus, den wir uns mit der Meinungs- und Redefreiheit leisteten. Und dann bewundern manche die autoritären Staaten für ihre angeblich schlank und direkt auf Lösungen ausgerichteten Handlungswege. Dabei stimmt das höchstens kurzfristig. Etwa in der ersten Schrecksekunde des Corona-Ausbruchs.

Spätestens mittelfristig beweisen sich Demokratien nicht nur als menschlicher, sondern auch als effizienter. Eben wegen des Hin und Her. Der stete Austausch, die fortwährende Lösungssuche durch Versuch und Irrtum machen Gesellschaften höchst anpassungsfähig. Dabei ist Anpassungsfähigkeit nicht nur in der Evolution der Arten eine Grundbedingung des Überlebens.

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China unter Druck

Sie ermöglicht auch menschlichen Gesellschaften viel eher die Bewältigung neuer Herausforderungen als die Strukturen der Zwangsherrschaft, sei sie kommunistisch, monarchisch oder anderweitig autokratisch verfasst.

Die Corona-Politik der meisten Demokratien – auch jene Deutschlands – war nicht wirklich konsequent, von vielen Widersprüchen und Kurswechseln geprägt. Aber damit war sie letztlich der sich verändernden Wirklichkeit angemessener als die bleierne Konsequenz der Chinesen. Sie zeigt nicht die Stärke, sondern eine grundsätzliche Schwäche autoritärer Regime.

Jede autoritäre Herrschaft beruht unter anderem auf einem Wahrheitsanspruch der Herrschenden. Sonst könnten sie ihre Macht über alles und Jeden kaum begründen. Darum wäre es stets eine Existenzbedrohung, wenn diese Macht einen bedeutsamen Irrtum zugeben müsste.

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Jede Diktatur ist fortlaufend und zunehmend damit beschäftigt, die Realität so zu verzerren, dass die negativen Folgen ihrer Irrtümer möglichst wenig auffallen. Dadurch wird auch jeder einzelne Träger des Systems von der Aufrechterhaltung der gemeinsamen großen Lüge abhängig. Auch das macht Autokratien nach innen und nach außen so brutal.

Abgewählte Demokraten können auf dem Polster ihrer Versorgungsansprüche eine Wiederwahl vorbereiten. Das mag man als Bürger allzu bequem finden und vielleicht schadet es auf Dauer dem Charakter der Regierenden. Aber es bietet auch Anreize, nach besseren Ideen zu suchen. Viel gefährlicher für das Gemeinwohl sind dagegen die Rahmenbedingungen, unter denen Autokraten und ihre Helfer agieren.

Demokratie funktioniert ganz gut

Sie müssen um ihre Zukunft oder gar ihr Leben fürchten, wenn ihr Versagen allzu offenkundig wird. Darum können sie einmal verkündete Irrtümer nicht korrigieren, darum können sie fehlgeschlagene Politiken kaum mehr abbrechen. Autokratien sind dumm, weil sie sich keinen Irrtum leisten können. Demokratien sind klug, weil sie sich ständig irren und korrigieren. Wir sollten aufhören, uns für diesen Vorzug zu schämen.

Unser Streit, unsere Zerrissenheit, unsere Uneinigkeit sind nicht die Nachteile allzu großer Menschenfreundlichkeit. Sie sind die Elemente unserer Problemlösungsmaschine namens Demokratie. Und die funktioniert offenkundig besser als die Konkurrenzprodukte.

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