Ehemalige KZ-Sekretärin: Späte Worte des Bedauerns

Immer wieder hatten die Überlebenden und ihre Anwälte die Angeklagte zum Reden aufgefordert. Hatten um Worte des Bedauerns gebeten angesichts des unvorstellbaren Grauens. Hatten auf die historische Bedeutung dieses Prozesses verwiesen, der vielleicht der letzte seiner Art sein wird, und die Angeklagte aufgefordert, die Zeit, die ihr bleibt, zu nutzen. Damit alle anderen das Unvorstellbare begriffen. Doch die Angeklagte schwieg.

Julian Staib

Politischer Korrespondent für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland mit Sitz in Wiesbaden.

Erst ganz am Ende dieses langen Prozesses, nachdem ihr Verteidiger sein Plädoyer gehalten hatte, äußerte sie sich kurz: „Es tut mir Leid, was alles geschehen ist“, sagte die 97 Jahre alte Irmgard F. mit leiser, aber klarer Stimme am Dienstag vor dem Landgericht Itzehoe. „Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“

Irmgard F. war Sekretärin des Lagerkommandanten im deutschen Konzentrationslager Stutthof im besetzten Polen, unweit von Danzig. Rund sechs Millionen Juden ermordeten die Nationalsozialisten in Deutschland und in den besetzten Ländern.

Rund 65.000 Menschen wurden in Stutthof ermordet

Stutthof war keines der ganz großen Konzentrationslager, aber auch kein kleines. Dort alleine wurden rund 65.000 Menschen von den Deutschen ermordet. Sie wurden vergast, ausgehungert, verbrannt. Als Zivilangestellte soll F. Teil der riesigen Tötungsmaschine der Nationalsozialisten gewesen sein und Beihilfe zum heimtückischen und grausamen Mord in mehr als 11.000 Fällen geleistet haben, so die Anklage.

Minutiös wurde in dem Prozess das Grauen geschildert: die Vergasungen, die Genickschüsse und Todesmärsche, die unmenschlichen Haftbedingungen. Irmgard F. schwieg. Vielleicht aus Scham, vielleicht auch aus Trotz. Am ersten Verhandlungstag erschien sie nicht, floh stattdessen aus dem Seniorenwohnheim mit dem Taxi, woraufhin sie kurzzeitig in Untersuchungshaft kam. Sie trage keine persönliche Schuld, ließ sie über ihren Verteidiger mitteilen.

Ihr gegenüber im Gerichtssaal saßen mehrere Reihen von Anwälten, die Nebenkläger vertreten. Jene Menschen, die oft nur mit unvorstellbarem Glück und eisernem Willen dem Morden entkommen waren und nun oft selbst voller Schuldgefühle sind: Warum durften sie überleben, während ihre Nächsten in die Gaskammern mussten?

Keine Reaktion

Der Zeuge Josef Salomonovic etwa verlor in Stutthof seinen Vater. Diesem soll ein KZ-Arzt eine tödliche Spritze ins Herz gesetzt haben. Salomonovic war damals sechs Jahre alt. Er überlebte als Kind acht Konzentrationslager. Jenes in Stutthof sei für ihn das schlimmste gewesen, sagte er vor Gericht. Er hielt dort ein Foto seines Vaters in Richtung der Angeklagten. Die aber zeigte keine Reaktion.

Weitere Zeugen berichteten – zugeschaltet auch per Video – vom Einsammeln der menschlichen Knochen im Krematorium, von den Hinrichtungen und den vielen verhungerten Mitgefangenen, vom Verbrennen der Toten in den Gruben und dem permanenten Gestank nach verbrannten Leichen.

Nachdem es in der Bundesrepublik nach einer kurzen Anfangsphase viel zu lange kaum Prozesse gegen NS-Verbrecher gegeben hatte und die allermeisten Täter ungestraft davongekommen waren (allein in Stutthof sollen rund 3000 SS-Leute tätig gewesen sein), wandelte sich mit dem Urteil gegen den früheren Sobibor-Aufseher John Demjanjuk 2011 die Strafverfolgung. Seitdem wird auch gegen einfache Mitarbeiter von Konzentrationslagern ermittelt.

Zu späte Strafverfolgung

Es gab daher eine Reihe von späten Prozessen gegen hochbetagte Menschen, darunter jenen gegen den einstigen „Buchhalter von Auschwitz“, Oskar Gröning, aber auch gegen einen früheren Wachmann des KZ-Stutthof, der 2020 in Hamburg zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. Gröning musste seine Haft nie antreten, Demjanjuk starb, bevor das Urteil rechtskräftig wurde.

Zuweilen wirkt es, als suchte die Justiz ihr jahrzehntelanges Fehlverhalten wett zu machen durch eine Vielzahl von neuen Prozessen. Doch die Strafverfolgung kommt spät; die meisten Täter und Augenzeugen von damals sind längst verstorben, viele andere sind nicht mehr vernehmungsfähig.

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