Touristik: Stille Nacht, einsame Nacht

Ganze Musikerkarrieren basieren auf der Idee, dass Menschen in den Tagen vor Weihnachten Autobahnen, Züge und Flugzeuge befüllen: „Driving home for Christmas“, „There’s no place like home for Christmas“, „Please come home for Christmas“, die Liste der sogenannten Weihnachtsklassiker mit Sehnsucht nach Heimat und nahen Verwandten ließe sich beliebig verlängern. Spätestens die Trauer über getrennte Familien in der Pandemie hat den Eindruck erweckt: Sehr eng bei sehr viel Essen mit sehr vielen Menschen in einem Raum zu sein, macht froh.

Wären da nicht die Zahlen, die die Reisesuchmaschine Kayak jetzt veröffentlicht hat: Anteilig gab es auf der Plattform doppelt so viele Suchanfragen nach Einzelzimmern für den 19. bis 27. Dezember wie im Jahr 2021. Im Vergleich zu 2019 drehten sich sogar sechsmal so viele Anfragen um Einzelunterkünfte. Die Ersteller der Statistik sagen aber: Diese Suchen stammen nicht von Heimreisenden. So wurden nicht Reisemöglichkeiten nach Timmerhorn oder Esslingen gesucht, sondern Bangkok, Istanbul, New York waren die beliebtesten Ziele. Auffällig auch: Auf der Liste der zehn beliebtesten Ziele ist Palma de Mallorca das am nächsten gelegene – mit immer noch 1794 Kilometer Entfernung von Deutschlands geografischer Mitte. Alle anderen Ziele sind weiter weg – von Deutschland, von den Verwandten.

Was nun sagen diese Zahlen aus? Eine erste, naheliegende These: Entweder haben die Menschen, nachdem sie sehr viel Zeit mit ihrer Kernfamilie verbracht haben, festgestellt, wie gern sie alleine sind. Dagegen sprechen allerdings sinkende Scheidungszahlen. Die zweite Erklärung: Viele wären schon immer lieber alleine an Feiertagen, dieses Jahr haben sie eine bessere Ausrede – weil man „endlich wieder reisen kann“.

Dann lieber gleich Sonne und Sand

Am wahrscheinlichsten ist, dass das Internet, wie so oft, eher Projektionsfläche denn Ort tatsächlicher Handlungen ist. Die Statistik der Plattform verzeichnet Suchen, nicht Buchungen. Und so, wie Suchanfragen nach den Lebenspartnern hübscher Hollywood-Menschen häufig sind (vielleicht ist er oder sie ja noch zu haben?) und Instagram funktioniert, weil man sich kurz vorstellt, wie es wäre, in einem Van in Griechenland zu leben, zeigen die Einzelzimmersuchen vor allem eines: mentalen Eskapismus. Alle wollen weg, nicht nur von der Familie, sondern von Krise und Katastrophennachrichten. Die Lust, an einem thailändischen Strand zu liegen, dürfte sich umgekehrt proportional zur Zahl der Lichterketten und den Schneemengen verhalten: weniger Strom und Regen statt weißer Flocken? Dann lieber gleich Sonne und Sand.

Dass das große Geldausgeben ansteht in Hotels, daran zweifelt auch der Bundesverband des Deutschen Hotel- und Gaststättengewerbes. Der gab bekannt, dass jede dritte Hotel- und Restaurantbesitzerin bisher sehr schlechte Buchungen für die Feiertage verzeichnet. Vielleicht hofft also mancher Hotelier und Wirt einfach, die Gäste mit praktischen Argumenten zu locken, wenn er derzeit einen anderen Weihnachtsklassiker spielt. „Baby, it’s cold outside“ läuft in unzähligen Lobbys und Kneipen, ein Lied, in dem eine Dame überzeugt werden soll, drin zu bleiben an einem weihnachtlichen Abend. Der Song von 1944 klingt schön, aber er hat dieser Tage eine unangenehme Konnotation. Darin heißt es: „Think of my life-long sorrow, if you got pneumonia and died“ – „Denk an meinen lebenslangen Kummer, wenn du an einer Lungenentzündung sterben würdest.“ Nun ist das mit dem Krankwerden drin und draußen dieser Tage problematisch, auf Reisen ohnehin, eigentlich bleibt nur eine Lösung. Daheim bleiben, und zwar: alleine.

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