Martin Schulze Wessel im Interview zum Krieg in der Ukraine

Herr Professor, gerade sind viele Dutzend, vielleicht viele Hundert Soldaten der russischen Invasions­armee in der Ukraine gestorben, weil sich in ihrem Stützpunkt in Makijiwka kein Mensch um ihre Sicherheit kümmerte. Der ukrainische Generalstabschef Valeryj Saluschnyj sagt, diese Fahrlässigkeit komme daher, dass russische Offiziere seit Zar Peter dem Ersten dem Leitbild des „Derschimorda“, folgen – also dem Motto: „Gehorche und halt das Maul, sonst bist du am Arsch“.

Konrad Schuller

Politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

Derschimorda ist in Gogols Komödie „Der Revisor“ ein gewalttätiger, verantwortungsloser Polizist, also eine Figur des gesellschaftlichen Alltags. Die russische Armee aber ist das Spiegelbild ihrer Gesellschaft. Und in der russischen Ge­schichte finden sich seit Peter dem Ersten, also seit 300 Jahren, immer wieder Perioden, in denen eklatante Mängel in der Führung und der Moral der Armee eine Folge gesellschaftlicher Missstände waren.

Russland ist geprägt von der Erfahrung jahrhundertelanger Leibeigenschaft und dann der sowjetischen Diktatur. Die Masse der Menschen galt den Eliten meist nur als Produktionsmittel. Ist auch deswegen der militärischen Führung bis heute das Leben der eigenen Soldaten egal?

Auf jeden Fall. Die Leibeigenschaft in Russland führte bis ins 19. Jahrhundert zu enormer Distanz zwischen Offizieren und einfachen Soldaten. Und diese Distanz hat sich in der Sowjetunion nicht verkleinert.

Ist das bis heute so?

Der Fall von Makijiwka zeigt jedenfalls eine Verantwortungslosigkeit, die kein Einzelfall ist. Sie prägt nicht nur die russische Armee, sondern auch die russische Gesellschaft insgesamt – genauso wie das Phänomen der Korruption. Dieser Krieg legt brutal die Schwäche der gesamten Verwaltung in Russland offen.

Martin Schulze Wessel: „Putins Regime wird nach einer Niederlage nicht mehr existieren können.“

Martin Schulze Wessel: „Putins Regime wird nach einer Niederlage nicht mehr existieren können.“ : Bild: Picture Alliance

Als nach dem Ende der Sowjetunion das System der russischen Oligarchen entstand, tauchte der Begriff des „Planktons“ auf. Er bezeichnete die Sicht der neureichen Elite auf die Masse: Die Menschen erschienen als Schwärme von Mikroorganismen, nur dazu bestimmt, von den Wal­fischen verspeist zu werden. Hat sich in Putins Russland das Menschenbild der Leibeigenschaft und der sowje­tischen Diktatur einfach fortgesetzt?

Der Zynismus postsowjetischer Oligarchen hat tatsächlich historisch tiefe Wurzeln. Aber noch ein Weiteres ist wichtig: ein kollektivistischer Ansatz in der russischen orthodoxen Kirche. Religion ist in der russischen Orthodoxie, so wie sie von der jetzigen Kirchenführung verstanden wird, nicht vor allem das Gespräch des Individuums mit seinem Gott. Es geht um die Gemeinschaft als Ganzes, und aus russisch-orthodoxer Sicht sind Glaubensgemeinschaft und nationale Gemeinschaft ein und dasselbe. Das führt dazu, dass das Leben einzelner Soldaten wenig gilt. Ihr Opfer wird in Kauf genommen, weil ja ein Soldat, der für Russland stirbt, quasi religiöses Heil erlangt.

Ein Fresko in der Moskauer Mariä-Entschlafens-Kathedrale zeigt Zar Iwan den Schrecklichen, wie er eine feindliche Stadt bis auf die Grundmauern niederbrennt und dafür von Maria und dem Jesuskind gesegnet wird. Putin gibt heute seinen Überfall auf die Ukraine als Kampf gegen den „Satanismus“ des Westens aus. Ein und dieselbe Tradition?

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