Schlechte Ernährung: Wollen wir uns wirklich zu Tode essen?

Der Apfel als tägliche Gesundheitsration, der nach dem bekannten englischen Sprichwort den Doktor auf Distanz hält, ist für Millionen Deutsche zur verbotenen Frucht geworden. Zehn bis zwanzig Prozent der Deutschen leiden nach seriösen Schätzungen inzwischen unter einer Apfelallergie, eine sprunghaft gestiegene Zahl, die sich die Ärzte lange nicht erklären konnten und der die Allergologen von der Charité in Berlin auf den Grund gehen wollten.

Jakob Strobel y Serra

Verantwortlicher Redakteur des Reiseblatts, Stellvertretender Leiter des Feuilletons.

Sie ließen Apfel­allergiker erst handelsübliche Früchte aus dem Supermarkt essen, mit allen zu erwartenden Reaktionen. Dann gaben sie ihnen unverfälschte Ursorten von alten Streuobstwiesen, wunderten sich, dass sie von ihren Probanden problemlos toleriert wurden, und kamen dem Rätsel schließlich auf die Spur: Die Agrarindus­trie hat Hunderte alter Sorten aussortiert, um sie durch eine Handvoll neuer Züchtungen mit wundersamen Eigenschaften zu ersetzen.

Das Unheil der Allergene

Diese Frankenstein-Äpfel sind einfach zu transportieren und gut zu lagern, schmecken süß wie Honig und werden nach dem Anschneiden nicht einmal braun. Welcher Preis für die Metamorphose gezahlt werden muss, ahnen die Apfelesser erst, wenn ihnen die Zunge pelzig wird und das Jucken beginnt: Nicht nur gesunde Antioxidantien, sondern auch sekundäre Pflanzenstoffe wie Polyphenole sind von den Konzernen weggezüchtet worden, weil sie für die unerwünschte Säure und die unappetitliche Verfärbung verantwortlich sind. Polyphenole hemmen aber auch Entzündungen, schützen vor Krebs und binden die Allergene im Apfel, die jetzt bei so vielen Menschen ihr Unheil anrichten können.

Verführerisch für die biblische Eva: Heutige Industrie-Äpfel würden ihr wohl hingegen kaum schmecken.

Verführerisch für die biblische Eva: Heutige Industrie-Äpfel würden ihr wohl hingegen kaum schmecken. : Bild: Kaja Grope

Der Industrieapfel ist nur ein Beispiel für die desaströsen Fehlentwicklungen unserer Ernährung. Er ist eines der vielen Menetekel für die befremdliche Tatsache, dass wir so systematisch wie kein anderes Lebewesen unsere Gesundheit beim Essen freiwillig ruinieren, und zieht damit die Vernunftbegabung des Homo sapiens ernsthaft in Zweifel. Denn wir nehmen es ach­selzuckend hin, dass schlechte Ernäh­rung inzwischen für mindestens vierzig Prozent aller Krankheiten in Deutschland und zu ei­nem guten Teil für die eine Milliarde Euro verantwortlich ist, die wir jeden Tag für unser Gesundheitssystem ausgeben – makabre Zahlen, die man sich wie eine Milchschnitte auf der Zunge zergehen lassen sollte.

Wir brauchen eine Deindustrialisierung

Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck, Fettleber, Herzinfarkt, chronische Nierenerkrankungen, all das ist der Tribut, den wir für unsere widersinnigen Ernährungsgewohnheiten entrichten. Und anstatt sie zu ändern, machen wir von Jahr zu Jahr alles nur noch schlimmer. So droht uns eine düstere Zukunft, weil wir nicht wahrhaben wollen, dass uns allein die Deindustrialisierung unserer Lebensmittel und unserer Ernährung retten kann. Der Fortschritt muss eine Rückkehr in die Vergangenheit sein, in die Zeit der Hunderten von Apfelsorten.

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