Folter, Vergewaltigung, Hinrichtung – Russlands brutales Besatzungsregime in der Ostukraine

Schicksale lassen sich in diesem Krieg nicht immer auch in Zahlen bemessen. Die Schicksale von Ukrainern zum Beispiel, die ohne jegliche rechtliche Grundlage in Russland inhaftiert sind. Ein Expertenbericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der an diesem Donnerstag in Wien vorgestellt wurde, widmet sich auf 85 Seiten ausführlich genau diesem Thema. Ein System wird da beschrieben, das hinter der Frontlinie fast lautlos agiert – systematisch, administrativ abgeschirmt, zielstrebig und ohne jede Scheu, Gewalt anzuwenden.

35.000 Ukrainer gelten seit dem Februar 2022 als vermisst. Viele davon sind Militärs, viele davon Kinder, die zum Zweck der Umerziehung verschleppt wurden. Viele sind einfach Zivilisten, die in Russlands Lagersystem verschwunden sind. Die zuständige ukrainische Stelle gibt die bestätigte Zahl verschleppter Zivilisten mit 8717 an.

Es wird davon ausgegangen, dass es weitaus mehr sind. Denn zwischen dem russischen Okkupationsregime und den ukrainischen Behörden liegt eine Frontlinie. Es gibt entgegen geltendem internationalen Recht keine Informationen seitens Russlands. Und in Russland inhaftierten Ukrainern ist – ebenso entgegen geltendem Recht – jeder Kontakt zur Außenwelt untersagt.

Lesen Sie auch
Ein ukrainischer Scharfschütze an der Front

Deutsche Hilfen

Letztlich wissen ukrainische Stellen nur über stille Post vom Verbleib verschleppter Zivilisten. Und das auch nur aus einem Grund: Zivile Gefangene und Kriegsgefangene werden in Russland oft in denselben Einrichtungen untergebracht – in Haftanstalten. Ausgetauschte Kriegsgefangene können daher den einen oder anderen Fall bestätigen.

Offizielle Anfragen über staatliche Stellen, über Anwälte oder auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) verhallen in Russland ohne Antwort. Und ebenso die Anfrage der Autorinnen des Berichts an Russland zur Kooperation. Wie es in dem Bericht heißt: Es gebe „derzeit keinen regelmäßigen Kommunikationskanal“, über den „die Russische Föderation ihrer Informationspflicht gegenüber der Ukraine (…) nachkommen würde“.

Die 8717 bestätigten Fälle sind wiederum die Folge von dem, was auf russisch besetztem Gebiet in der Ukraine still aber keinesfalls heimlich, jedoch abseits der Weltöffentlichkeit tagtäglich passiert. In den zehn Jahren seit der Annexion der Krim sowie der Ostukraine und den zwei Jahren seit der Invasion hat Russland sein Rechtssystem auf die annektierten Gebiete ausgeweitet – dieses in den betroffenen Regionen aber noch markant zugeschliffen.

Systematische Verschleppungen ohne jegliche Rechtsbasis und Inhaftierungen meist ohne Anklage oder Verurteilung stehen in einem flächendeckenden Ausmaß an der Tagesordnung, wie die Autorinnen Cecilie Hellestveit, Veronika Bilkova und Elina Steinerte vor Journalisten erklärten. Und sei nicht möglich nachzuvollziehen, wo diese Personen festgehalten werden.

Lesen Sie auch
Ein Mähdrescher erntet Getreide in der Region Odessa im Süden der Ukraine

Neue Ukraine-Zölle

Durch Einschüchterung und Gewalt würden Menschen „zur Zusammenarbeit mit den russischen Besatzungsbehörden genötigt“, heißt es in dem Bericht. Wer sich widersetze, riskiere „willkürliche Verhaftungen, Gewalt und andere Repressalien“. Zudem würden Einwohner, die noch keinen russischen Pass angenommen hätten, von den Besatzungsbehörden „besonders herausgegriffen“. Und das bedeutet weniger Schikanen, sondern administrative Maßnahmen mit existenzbedrohenden Folgen: den Entzug von medizinischer Versorgung oder Medikamenten wie Insulin etwa.

In dem Bericht wird ein Besatzungsapparat beschrieben, der systematisch vorgeht. Demnach sind mehr als 400 Richter in den besetzten Gebieten der Ukraine ernannt worden – die meisten davon russische Staatsbürger. Sie sind es dann, die Urteile wegen „Extremismus“, „Verunglimpfung der russischen Armee“ oder „Terrorismus“ fällen. Urteile, für die es genügt, ein ukrainisches Lied am Telefon gespeichert, oder irgendwie sonst den Verdacht erregt zu haben, über die Okkupation nicht begeistert zu sein.

Haftstrafen von stalinistischer Dimension werden dann ausgesprochen: 20 Jahre oder mehr sind keine Seltenheit. Ebenso wie Sippenhaftung – also, dass zum Beispiel Angehörige ukrainischer Soldaten verfolgt werden. Vor allem entsprechen all diese Verfahren – falls es überhaupt zu solchen kommt – keinerlei rechtsstaatlichen Standards. So wird den Angeklagten kein Rechtsbeistand zugestanden.

Lesen Sie auch
TOPSHOT-RUSSIA-ATTACK-SHOOTING-JUSTICE

Anschlag bei Moskau

Wie Eugenia Andreyuk von der World Organization Against Torture (OMCT) in diesem Zusammenhang sagt: Russlands Bürokratie versuche nicht nur die militärische Kontrolle herzustellen, sie versuche vor allem auch das soziale Gefüge in einer Region zu manipulieren und zu verändern. Wer aneckt, dem drohen Internierung, Folter, Erschießung, Vergewaltigung, Verschleppung. Und sie sagt: All „diese Taten kommen nicht sporadisch vor“. Das geschehe „systematisch“.

Mitautorin Hellestveit sagt: Es gebe „sehr ähnliches Muster, wer was macht“. Wer die Festnahmen durchführe, wer die Befragungen, welche Aufgaben an wen delegiert würden. Vieles deutet darauf hin, dass dies nicht von lokalen Befehlshabern ausgeht, sondern dass ein System dahinterstecke – Armee, FSB, Rosguardia, russische Polizei.

Das deckt sich mit Aussagen von Ukrainern, die unter russischer Besatzung leben: Die Schilderung, der Willkür von Besatzern ausgesetzt und in der Heimatstadt Bürger zweiter Klasse zu sein – und das inmitten gezielt wirkender russischer Ansiedelungspolitik sowie florierender Denunziation.

Der Bericht der OSZE widmet sich dem rechtlichen Gerüst dahinter. Etwa dem Gesetz, wonach ukrainische Staatsbürger nach Russland deportiert werden können, wenn ihre „extremistischen Aktivitäten“ die nationale Sicherheit gefährdeten. Ein Gummiparagraf, der auf jede Regung ukrainischer Identität angewendet wird und alle betreffe, „die proukrainische Ansichten äußern oder die offizielle russische Darstellung des Krieges kritisieren“.

Dabei gibt das rechtliche Regelwerk laut dem Bericht einen losen Rahmen vor, innerhalb dessen Willkür walten lassen kann, wer eine russische Uniform trägt. Aber auch diese Willkür trägt systematische Züge. So heißt es: Es gebe „hinreichende Gründe für die Annahme“, dass die russischen Behörden „außergerichtliche Tötungen an ukrainischen Zivilisten begangen haben“.

Zahlreiche Fälle sexueller Gewalt

Ebenso verhält es sich mit sexueller Gewalt in Untersuchungshaft oder Haft. Von „zahlreichen Fällen“ ist die Rede. Konkret: Von „Vergewaltigung und sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen, die auch den Tatbestand der Folter erfüllen können“. Bei den Opfern handle es sich sowohl um Frauen als auch um Männer.

Konkret geschildert wird der Fall einer Frau aus der Region Cherson, die wiederholte Male festgenommen worden sei. In einem Fall sei sie zunächst drei Tage lang in Isolationshaft gehalten, verhört und mit einer mit Wasser gefüllten Plastikflasche geschlagen worden. Dann sei sie an Beamten des FSB übergeben und von diesen verhört und gefoltert worden, indem man Drähte an ihren Brustwarzen befestigte und ihr Elektroschocks verabreichte.

Das in dem Bericht geschilderte Folter-Repertoire der Russen reicht aber viel weiter – von „endlosen Demütigungen, Anschreien und Einschüchterung“ über „Schläge, Tritte und Prügel, einschließlich Schlägen mit verschiedenen Gegenständen“ bis zur „Verabreichung von Elektroschocks, Abschneiden von Fingern, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung sowie anschließende Verweigerung medizinischer Hilfe“. Oft müssten Gefangene zusehen, wie all das Mitgefangenen angetan werde.

Oft gehe es darum, Kooperation zu erzwingen, Geständnisse zu erpressen, die dann gegen die Personen verwendet werden könnten oder einfach nur ein Klima der Angst zu schaffen, erklärt Mitautorin Bilkova.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

All das sind nur Auszüge, Fallbeispiele, Einzelschicksale unter Tausenden. In dem Expertenbericht ist die Rede von Verstößen „gegen zahlreiche Bestimmungen des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechtskonvention“. Konkret: Weil „einer großen Zahl ukrainischer Zivilisten die Freiheit entzogen“ worden sei, „ohne dass dafür ein rechtmäßiger Grund vorlag“.

Die Rede ist zudem von „hinreichenden Gründen für die Annahme“, dass Russland Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehe und grundlegende Regeln des Völkerrechts verletze. Hier werde internationales Recht aufgelöst, so die Autorinnen. Ihre Empfehlung: die sofortige und bedingungslose Freilassung der Gefangenen.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*