„Wo mehr Polizei war, fühlten die Bürger sich unsicherer“

Laufen zwei Polizisten regelmäßig durch ein Wohnviertel, fühlen die Bürger sich weniger sicher: Zu diesem Ergebnis kommt ein Experiment in Kassel, durchgeführt durch die Universität Gießen in Zusammenarbeit mit der Polizei Nordhessen.

Die Stadt Kassel wurde dafür in kleine Rechtecke unterteilt, sogenannte Rasterzellen. In 20 dieser Gebiete zeigte eine Polizeistreife mit zwei Beamten und einem Funkwagen an drei Tagen in der Woche und zu zufälligen Zeiten Präsenz. Rund 3000 zusätzliche Arbeitsstunden bedeutete das laut Polizei. In 20 Kontrollgebieten lief alles hingegen so weiter wie zuvor. Von September 2022 bis August 2023 lief die Testphase, davor und danach wurden die Bürger befragt. Von dem Forschungsprojekt selbst wussten sie nichts.

Die Ergebnisse kamen für die Forscher überraschend: Bewohner der Rasterzellen mit erhöhter Polizeipräsenz sahen nach der Testphase sogar noch mehr Bedarf für Polizeipräsenz. So gaben noch vor der Testphase 65,3 Prozent der Befragten den Wunsch danach an – nach der Testzeit waren es 68 Prozent. Befragte aus der Gruppe ohne erhöhte Polizeipräsenz wünschten sich vor dem Versuch zu 67,6 Prozent mehr Polizei – und der Wert sank nach dem Experiment auf 64,8 Prozent.

Quelle: Infografik WELT

„Wo mehr Polizei war, fühlten die Bürger sich unsicherer“, sagt Tim Pfeiffer, Studienleiter und Kriminologe an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Sichtbarkeit der Ordnungshüter habe Bürger also verunsichert. „Im Kopf entstand die Frage: Wieso ist die Polizei da? Wo Polizei ist, da muss auch was passiert sein.“

Pfeiffer verweist auf eine Forschungslücke. Bisher gebe es keine Zahlen zur Wirksamkeit der Streifen auf die Sicherheit in Deutschland. Selbst international gebe es kaum solche Studien. Diese Lücke habe man nun schließen wollen.

Interessant ist das Ergebnis vor allem, weil eine stärkere Präsenz der Polizei eigentlich von den Bürgern gewünscht wird. Das zeigte die sogenannte Kompass-Erhebung im Auftrag des hessischen Innenministeriums. Auf die Frage, wie die Sicherheit in der eigenen Stadt erhöht werden könnte, wünschten sich gut zwei Drittel der Befragten mehr Polizei. Etwa ein Drittel sah eine Zunahme der Präsenz des Ordnungsamts, mehr Straßenbeleuchtung und mehr Videoüberwachung als geeignete Mittel.

Präventionsprojekte hingegen befürworteten nur rund 14 Prozent, den Ausbau des Kultur- und Freizeitangebots ein knappes Drittel.

Quelle: Infografik WELT

In Kassel habe die erhöhte Polizeipräsenz nun jedoch dazu geführt, dass die Sicherheit im eigenen Wohnumfeld und sogar in der eigenen Wohnung plötzlich negativer bewertet worden sei, berichtet Pfeiffer. So seien „Drogenabhängige, Betrunkene und Lärmbelästigung“ plötzlich stärker als Problem wahrgenommen worden, ohne dass es hierfür „einen physischen Nachweis“ gegeben habe. „Das Unsicherheitsgefühl in Kassel hat zugenommen“, resümiert der Kriminologe.

Das Vertrauen in die eigene Nachbarschaft sei hingegen sogar gestiegen. „Das Gefühl ist: Ich habe die Polizei nicht gerufen, das werden wohl die Nachbarn gewesen sein.“

„Polizeipräsenz ist kein Allheilmittel“

Ebenfalls auffällig: Die Streifen haben laut dem Forscher keinen Einfluss auf die Kriminalität gehabt. In beiden Gebieten nahmen die Straftaten zu.

Das passt auch zu einem bundesweiten Trend, wie die polizeiliche Kriminalstatistik erst kürzlich zeigte. Demnach wuchs die Zahl der jährlichen Straftaten im vergangenen Jahr um fünf Prozent auf insgesamt 5,94 Millionen Taten in ganz Deutschland an. In wirtschaftlich angespannten Zeiten, so Pfeiffer, steige zudem die individuelle Sorge, Opfer eines Verbrechens zu werden.

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Polizeiliche Kriminalstatistik

Für die Polizei stellen sich durch das Projekt nun neue Fragen – denn der Nutzen stimmt offensichtlich nicht mit den Wünschen von Bevölkerung und Kommunen überein. Man freue sich über wissenschaftliche Erkenntnisse und werde die genauen Ergebnisse nun analysieren, teilt das Polizeipräsidium Nordhessen mit.

Die Polizeipräsenz werde man weiterhin zielgerichtet einsetzen. „Wenn der Bevölkerung bekannt ist, warum die Polizei vor Ort im Einsatz ist, wie zum Beispiel an Kriminalitätsbrennpunkten, ist die Polizeipräsenz ein wirkungsvolles Instrument, die objektive und subjektive Sicherheit zu erhöhen“, so Dirk Bartoldus, Sprecher der Polizei Nordhessen.

Ein Großteil der Bürger wünsche sich Präsenz an unsicheren Orten. Deswegen bekämpfe man Straßen- und Gewaltkriminalität in der Kasseler Innenstadt durch verdeckte und offene Präsenz. So solle der „Kontrolldruck auf Kriminelle an bekannten Brennpunkten“ erhöht werden, so Bartoldus zu WELT. Die Arbeit werde ab Mai etwa durch die „Organisationseinheit City“ ergänzt.

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„Polizeipräsenz ist kein Allheilmittel, sie sollte gezielt eingesetzt werden“, sagt auch Kriminologe Pfeiffer. Er sieht zudem Bedarf an nicht-polizeilichen Maßnahmen. So müssten Kommunen für ausreichend Straßenbeleuchtung oder die Sanierung des öffentlichen Raumes sorgen, um das individuelle Sicherheitsgefühl zu steigern.

Doch Pfeiffer sieht auch eine gute Nachricht für die Polizei in der Studie: „Für die vielen Menschen in Deutschland steht die Polizei nach wie vor für Gesetz und Ordnung.“ Es gebe keine Hinweise darauf, dass die Befragten in den Testgebieten Angst vor der Polizei selbst gehabt hätten. „Vielmehr fürchtet man sich vor dem, wofür die Polizei zuständig ist.“

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