Industrielles Metaversum: Siemens baut, was Meta nicht kann

Deutschland kann ja doch noch Zukunft! Warum sonst würde sich der amerikanische Techgigant Nvidia mit Siemens verbrüdern und mit den Münchnern seine Visionen für eine neue Industrie vorstellen? Siemens-Chef Roland Busch dürfte im Moment einer der Chefs deutscher Unternehmen mit der größten internationalen Präsenz sein. Entweder steht er mit Jensen Huang von Nvidia auf der Bühne, diskutiert Industriepolitik auf dem Weltwirtschaftsforum oder übernimmt die Hauptrede auf der Elektronikmesse CES in Las Vegas.

Dabei geht Busch mit einem Begriff hausieren der anderswo schon längst abgeschrieben wurde: „Industrielles Metaversum“. Auch auf der Hannover Messe diese Woche nimmt das Thema bei Siemens viel Raum ein. Das Metaversum soll eigentlich eine zusammengeschaltete Sammlung virtueller Lebens- und Arbeitswelten sein, die sich viele Menschen gleichzeitig teilen können und in der Änderungen permanent erhalten bleiben. Mark Zuckerberg hat 2021 seinen Facebook-Konzern nach dem Konzept benannt und steckt seitdem viel Geld in die Entwicklung eines solchen Metaversums.

Bisher ist davon wenig zu sehen. Die entsprechende Geschäftseinheit bei Meta ist eher dafür bekannt, Unmengen Geld zu verschlingen und wenig vorzuzeigen zu haben. Die Quest-Datenbrillen von Meta dienen momentan vornehmlich der Unterhaltung oder dem Sport.

Keine Spielerei, sondern hartes Geschäft

Ganz anders Siemens: Durch den Zusatz „Industriell“ füllt der Elektronikkonzern das Thema mit Leben. „Beim Gaming will man in andere Welten entfliehen. Im industriellen Bereich wollen unsere Kunden ihre Probleme in der realen Welt schneller, nachhaltiger und effizienter lösen“, sagt Cedrik Neike, der im Siemens-Vorstand den Bereich Digitale Industrien verantwortet, im Gespräch.

Siemens hebt Neikes Bereich als denjenigen hervor, der die größten Ausgabenzuwächse in Forschung und Entwicklung verzeichnet. 2023 gab Siemens insgesamt 6,2 Milliarden Euro für Forschungsaktivitäten aus. Laut Neike führt das industrielle Metaversum mehrere Bereiche zusammen. Digitalisierte Geräte, digitale Zwillinge und Künstliche Intelligenz (KI) werden bei Siemens zusammen gedacht.

Greifbar macht Siemens diese Entwicklungen in Erlangen. Sein dortiges Werk für Leistungselektronik hat das Unternehmen nicht nur digital nachmodelliert. Mit Grafikprogrammen, wie sie für Videospiele zur Anwendung kommen, wäre das längst möglich. Der digitale Zwilling von Siemens wird ständig mit Daten gefüttert, die die Fabrik generiert. Tausende Sensoren messen Stromverbrauch, Temperatur, Geschwindigkeiten und viele weitere Datenpunkte. Eine hoch automatisierte Fabrik produziert im Monat 2000 Terabyte an Daten, sagte Roland Busch während seiner Rede auf der CES: „Das Datenvolumen entspricht etwa 500.000 Filmen.“

Ein Schraubroboter, der IGBT-Bauteile auf Leiterplatten montiert.
Ein Schraubroboter, der IGBT-Bauteile auf Leiterplatten montiert.Michael Braunschädel

Diese Daten nutzbar zu machen und in die Simulation einfließen zu lassen, macht Nvidia möglich. Das amerikanische Unternehmen nahm seinen Anfang mit Grafikchips für Computerspiele. Eine weiterentwickelte Form dieser Chips wird nun für allerlei KI-Anwendungen sowie für die Simulationen von Siemens genutzt.

Aufzeichnungen im digitalen Zwilling machen den Ablauf effizienter

Mithilfe der Nvidia-Technologien wird in Erlangen zum Beispiel simuliert, wie Bauteile nach der Produktion in eine Kiste fallen. Nvidia steuert fotorealistische Bildgenerierung bei, Siemens die exakten physikalischen Daten, wie sich das Material der Bauteile verhält. „Wir können Nvidia-Technologien verwenden, um zum Beispiel für KI-Anwendungen spiegelnde Oberflächen akkurat zu simulieren“, sagt Werksleiter Stephan Schlauß während einer Führung durch das Werk.

Der Frequenzumrichter „Sinamics“ ist das Hauptprodukt des Siemens-Werks in Erlangen.
Der Frequenzumrichter „Sinamics“ ist das Hauptprodukt des Siemens-Werks in Erlangen.Michael Braunschädel

Die Digitalisierung eines Werkes wie in Erlangen hilft Siemens etwa bei der Wartung von Geräten. Zeigt ein Roboterarm ungewöhnliche Spannungsspitzen oder bewegt er sich langsamer, weil die Reibung an einem Gelenk größer ist, kann ein Mitarbeiter frühzeitig erkennen, wann ein Teil ausgetauscht werden muss. KI hilft dabei, falsche Fehlermeldungen auszusortieren: „Wir konnten 60 Prozent aller ungewollten Stopps ausmerzen“, sagt Werksleiter Schlauß.

Auch die Entwicklung von Prototypen wird durch das industrielle Metaversum schneller und kostensparender, sagt Cedrik Neike: „Mit den digitalen Zwillingen können wir simulieren, wie sich indus­trielle Systeme in verschiedenen Maßstäben verhalten – von Molekülen bis zu Geräten, Fabriken und Lieferketten.“ Gerade für Batteriefabriken oder die Pharmabranche seien solche Möglichkeiten interessant. „Für unsere Kunden ist diese plastische Darstellung im industriellen Metaversum sehr spannend“, sagt Neike.

Werksleiter Stephan Schlauß wacht über die Optimierung der Fertigungslinien. Mithilfe des Metaversums wird sein Werk wesentlich effizienter.
Werksleiter Stephan Schlauß wacht über die Optimierung der Fertigungslinien. Mithilfe des Metaversums wird sein Werk wesentlich effizienter.Michael Braunschädel

Siemens nutzt seine Modellierung auch, um Fabriken von Grund auf neu zu planen. Im chinesischen Nanjing eröffnete Siemens 2022 eine Fabrik, die vollständig im industriellen Metaversum geplant wurde. Aufgrund der großen Datenmengen, mit denen Siemens die Simulation vor Beginn jeglicher Baumaßnahmen füttern konnte, blieb der Bau unter Budget, vollständig im Zeitrahmen, und er hatte kaum Änderungskosten.

Zukünftiger Exportschlager?

Externe Kunden sind zum Beispiel der Batteriehersteller Freyr, BMW oder die Stadt Berlin, mit der Siemens einen neuen Stadtteil am digitalen Reißbrett plant. Neike hebt im Gespräch auch hervor, dass durch die exakte Planung der ökologische Fußabdruck von Großbauprojekten drastisch verringert werden kann: „Das Siemens-Stadtprojekt in Berlin wird im Betrieb komplett CO2-neutral sein.“

Siemens arbeitet auch daran, den Bruch zwischen der digitalen und realen Welt möglichst zu überbrücken. Das Unternehmen setzt auf Datenbrillen, um Mitarbeitern zu ermöglichen, sich realitätsnah in den virtuellen Umgebungen bewegen zu können. So kann zum Beispiel im digitalen Zwilling ein vermeintlich defekter Roboter aus allen Blickwinkeln im Detail wie in einem dreidimensionalen Video betrachtet werden, um festzustellen, wo der Fehler liegt.

Blick durch die VR-Brille: Siemens nutzt virtuelle Realität zur Ausbildung von Mitarbeitern und zur digitalen Demonstration seines Werks.
Blick durch die VR-Brille: Siemens nutzt virtuelle Realität zur Ausbildung von Mitarbeitern und zur digitalen Demonstration seines Werks.Michael Braunschädel

Auf der CES kündigte Siemens eine eigene Datenbrille mit dem japanischen Elektronikkonzern Sony an. Sony bringt dafür Erfahrungen aus dem Videospielsektor ein. Mit der Brille Playstation VR ist Sony seit 2016 im Endverbrauchermarkt für Datenbrillen präsent. Im industriellen Bereich konnte sich noch kein Anbieter richtig durchsetzen. Modelle von Google und Microsoft werden im Moment nicht weiterentwickelt.

Bei Siemens trifft die Brille von Sony allerdings auf ein ausgereiftes Konzept des industriellen Metaversums, das schon mehrere Anwendungsfälle hervorgebracht hat, etwa in der Fernwartung und Ausbildung von Mitarbeitern. Auch die gemeinsame Arbeit an digitalen Entwürfen von Geräten ist mit der Brille möglich. Anders als viele Metaversums-Apostel kann Siemens die Versprechungen mit Leben füllen.

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