Lehren aus der großen EU-Osterweiterung

Mit Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern traten vor 20 Jahren viele Länder aus dem früheren Einfluss der ehemaligen Sowjetunion bzw. mit Slowenien eine jugoslawische Teilrepublik dem Staatenverbund in einem „Big Bang“, wie es damals hieß, bei. 2007 folgten Bulgarien und Rumänien, wegen Mängeln im Justizsystem verspätet. Kroatien kam 2013 dazu.

Trotz aller Euphorie und Bilder für die Geschichtsbücher gab es damals wie heute auch viele Kritiker und Kritikerinnen, die sich durch die Entwicklungen gerade der vergangenen Jahre wohl bestätigt fühlen. Zunächst Ungarn und dann Polen entwickelten sich politisch in von den Verfechtern der Erweiterung betrachtet eher unerwartete Richtungen.

Feuerwerke über Kathedrale in Prag

APA/AFP/Mafa/Michal Ruzicka
Die Erweiterung ist 2004 breit gefeiert worden – hier in Prag

Wirtschaftlich ging es deutlich bergauf

Wirtschaftlich ging und geht es für die Länder der EU-Osterweiterung seitdem kontinuierlich bergauf. Besonders stark haben Rumänien, Bulgarien, Polen und die baltischen Staaten aufgeholt, so das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw).

Die Wirtschaftsleistung von Tschechien, der Slowakei, Polen, Ungarn und Slowenien, rechnete Raiffeisen Research jüngst vor, beträgt mittlerweile rund 8,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der EU, ihre Wirtschaftskraft übersteigt etwa jene der Niederlande deutlich. Polens BIP pro Kopf, so das wiiw, sei 1990 etwa so hoch gewesen wie jenes von Südafrika, Brasilien, Nordmazedonien und der Türkei – in den folgenden Jahren habe Polen diese Volkswirtschaften aber alle überholt. Laut Eurostat betrug das BIP der gesamten EU 2022 15,8 Billionen Euro.

Aufholbedarf bleibt bestehen

Für 2024 prognostizierte das wiiw den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern ein Wachstum von durchschnittlich 2,5 Prozent, 2025 drei Prozent. Rumänien (drei Prozent) und Kroatien (2,9 Prozent) sollen 2024 besonders stark wachsen, unter anderem durch Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds der EU.

Frau hält EU-Fahne in Warschau

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Auch nach 20 Jahren gibt es Aufholbedarf für die Wirtschaft der EU

Die Zahlen unterstreichen, dass wirtschaftlich weiterhin Aufholbedarf besteht. Während das Preisniveau in Österreich laut Eurostat 2022 bei 109,6 Punkten lag, lag es in Rumänien etwa bei 59,3, in Polen bei 60,7, in Ungarn bei 67,7 und in Litauen bei 78,8. Das BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität stieg in Litauen etwa von 52 auf 89, in Polen von 51 auf 79 und in Ungarn von 63 auf 76. Auch in Rumänien stieg es auf 76. In Österreich lag die Kaufkraft bei 124 (alle Zahlen 2022).

Grafik zur Erweiterung der EU

Grafik: APA/ORF

Das wiiw sieht noch einigen Reformbedarf im Bereich Wirtschaft, etwa den Kampf gegen Korruption und eine Entwicklung weg von der Position als verlängerte Werkbank in der EU. Es gebe zudem nach wie vor große regionale Unterschiede. Auch sei durch Abwanderung der Arbeitskräftemangel drängend. Bereits mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 setzte eine starke Migration aus diesen Ländern ein, insbesondere aus Bulgarien, Lettland und Litauen (um etwa 16 Prozent). Zudem sanken die Geburtenraten.

EU als beliebter Sündenbock in Ungarn

Der steigende Wohlstand ist auch auf Gelder aus Brüssel zurückzuführen, was politisch nicht immer den entsprechenden Niederschlag findet. Ungarn, aber auch Polen unter der PIS-Partei, stehen bzw. standen wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit immer wieder in der Kritik. So wettert etwa Ungarns Premier Viktor Orban laufend gegen die EU und blockiert wichtige Entscheidungen, obwohl das Land selbst stark von EU-Geldern profitiert.

Das führte sogar zu einem Streit zwischen den EU-Institutionen: Das EU-Parlament verklagte im März die EU-Kommission vor dem EuGH wegen der Freigabe von 10,2 Milliarden Euro an Ungarn. Die Gelder waren im Streit über die Unabhängigkeit der ungarischen Justiz blockiert worden. Die Flüchtlingskrise und die daraus resultierenden politischen Debatten verschärften in der EU zudem latente Tendenzen in Richtung Fremdenfeindlichkeit und die jeweiligen politischen Lager.

Neues Grenzübergang-Schild von Ungarn mit EU-Sternen, 2004

APA/AFP/Ferenc Isza
Ungarn zählte zu den großen Hoffnungsträgern – das 20-Jahr-Jubiläum wird in Ungarn offiziell nicht gefeiert

Migration auch bei Erweiterung großes Thema

Schon bei der Erweiterung war die Angst vor zu viel Zuwanderung Thema – damals ging es noch um Menschen aus den neuen EU-Ländern. So erhielten die alten EU-Staaten das Recht, ihren Arbeitsmarkt bis zu sieben Jahre für Menschen aus den neuen Mitgliedsländern zu schließen. Großbritannien öffnete seinen Arbeitsmarkt sofort, weswegen innerhalb weniger Jahre rund eine Million Menschen aus Polen kamen – beim Referendum über den Austritt aus der EU war die anhaltende Zuwanderung wohl mitentscheidend.

Mittlerweile stehen die nächsten Beitrittskandidaten fest, Gespräche laufen bereits. Mit Montenegro führt die EU seit 2012 Beitrittsverhandlungen. Die Ukraine, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Georgien, Moldawien, Nordmazedonien, Serbien und die Türkei haben ebenfalls den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Die Verhandlungen mit der Türkei sind allerdings seit Jahren ausgesetzt.

EU muss Reformen vorantreiben

Vor einer Erweiterung müsste die EU noch einige Hausaufgaben erledigen, sagte vergangene Woche EU-Budgetkommissar Johannes Hahn. Eine Aufnahme der Ukraine in die EU könnte ohne Änderung der Förderregeln nach Hahns Einschätzung ein um 20 Prozent höheres Budget der Staatengemeinschaft erfordern. Das wäre aber noch das geringste Problem.

Europäisches Parlament von innen, 2004

Reuters/Str New
Die EU-Institutionen müssten sich für eine kommende Erweiterung ebenfalls rüsten, sagen Experten

Das größere Problem sehe er woanders: „Wie treffen wir Entscheidungen, wie sichern wir Rechtsstaatlichkeit? Wie bringen wir den großen Agrarsektor der Ukraine mit unserer Landwirtschaft zusammen?“ Unabhängig von einem EU-Beitritt der Ukraine und Ländern des Westbalkan seien in der EU institutionelle Reformen nötig, so Hahn. Er plädierte etwa für Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit in der Außenpolitik.

EU-Politik pocht auf Erweiterung

Bei einer Erweiterungsfeier am Montag sprach auch Ratspräsident Charles Michel die Reformaufgaben für die EU an. „Die Erweiterung ist ein Eckpfeiler unserer Souveränitätsstrategie, und wir – die Kandidatenländer und die EU-Institutionen – haben noch viel zu tun.“ Bis 2030, so seine feste Überzeugung, müssten alle Seiten für die Erweiterung bereit sein.

EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola verwies bei einer Festveranstaltung vergangene Woche ebenfalls auf die Bedeutung der Verhandlungen mit weiteren Staaten. „Die EU-Mitgliedschaft ist ein Gewinn für alle“, sagte sie in Straßburg.

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