Vor der EU-Wahl: Die europäische Politik rückt nach rechts

Keine sechs Wochen sind es noch bis zur Europawahl am 9. Juni. Das Europäische Parlament hat gerade zum letzten Mal in dieser Legislaturperiode getagt, nun beginnt der Wahlkampf. Der wird in 27 Staaten geführt, in nationalen Konstellationen. Ein Trend zeichnet sich jedoch schon seit Längerem ab: Die Europäische Union rückt politisch nach rechts. Parlamentswahlen in Italien, Schweden, Finnland, den Niederlanden und zuletzt Portugal haben das gezeigt. Dort profitierten nicht nur Christdemokraten, sondern auch Nationalkonservative und Rechtspopulisten. In mehreren Staaten regieren sie nun sogar mit. Auch im Europäischen Parlament haben sich schon neue Konstellationen gebildet. Und die Europawahl wird diese Rechtsverschiebung noch befördern.

Im Europäischen Parlament gibt es keine formellen Koalitionen, wohl aber eine informelle Mehrheit, die sich untereinander abstimmt und die Arbeit der EU-Kommission trägt. Seit der ersten Direktwahl 1979 hatten die beiden großen Parteifamilien – die Christdemokraten von der Europäischen Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten – zusammen immer die meisten Stimmen. Doch 2016 begann ihre Allianz zu bröckeln, die Liberalen kamen als Machtfaktor ins Spiel. Nach der Wahl 2019 wurden sie unentbehrlich. Ursula von der Leyen hatte nur neun Stimmen über der nötigen absoluten Mehrheit, als sie zur Kommissionspräsidentin gewählt wurde. Die Abstimmung war geheim, von der Leyen bekam seinerzeit auch Stimmen von Abgeordneten weiter links und rechts.

Regiert hat von der Leyen dann lange in der Mitte. Sie umwarb immer wieder die Grünen, die sie nicht gewählt hatten. Das betraf insbesondere den Green Deal, den sie mit der Mondlandung verglich. Mal gelang das Werben, mal gelang es nicht. Als das Parlament im Juni 2021 beschloss, dass die EU bis 2050 klimaneu­tral werden soll, waren die Grünen nicht an Bord. Sie hatten als Zwischenziel für 2030 eine Verminderung des CO2-Ausstoßes um 60 Prozent verlangt; im Gesetz standen „nur“ 55 Prozent.

Bei einem der umstrittensten Themen – dem Verbrenner-Aus ab 2035 – verhalfen sie dagegen Anfang 2023 dem Vorschlag der Kommission zu einer knappen Mehrheit, während die EVP dagegen stimmte und vor Wut schäumte. Das sei nicht mehr ihre Kommissionspräsidentin, schimpften Abgeordnete. Manche wünschten sich Roberta Metsola als Nachfolgerin, die konservative Parlamentspräsidentin aus Malta.

Von der Leyens Spiel mit wechselnden Mehrheiten ging lange gut – bis zum Sommer vorigen Jahres. Angesichts der Wahlerfolge rechter Parteien und der Proteste von Landwirten drehte sich auch in Brüssel und Straßburg der Wind. Die EVP verweigerte der Kommission offen ihre Gefolgschaft, auch die Rechtsliberalen begehrten auf. Ein Gesetzentwurf zur Renaturierung landwirtschaftlicher Flächen wurde stark abgeschwächt. Mit der Mehrheit von Liberalen, Christdemokraten und Nationalkonservativen stoppte das Parlament ein Gesetz, das den Einsatz von Pestiziden drastisch vermindern sollte. In dieser Woche nahm dieselbe Mehrheit im Eilverfahren Umweltauflagen für Agrarbetriebe zurück. Inzwischen sind die Grünen auf der Palme.

Grüne und Liberale verlieren, Rechte legen zu

Diesen Rechtsruck hat es auch bei anderen Themen gegeben, etwa der Migration. Vor Kurzem billigte das Parlament eine massive Verschärfung des Asylrechts. Das ging von den Mitgliedstaaten aus. Bei der Abstimmung wurde es dann aber ganz knapp, weil nicht nur die Grünen einen Kurs der Abschreckung kategorisch ablehnten, sondern auch Dutzende Sozial- und Christdemokraten von der Fahne gingen – aus innenpolitischen Gründen. Am Ende trug die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni viel dazu bei, die Reform zu retten. Ein Teil ihrer nationalkonservativen Abgeordneten stimmte in Brüssel dafür, während sich die Vertreter ihres rechtspopulistischen Koalitionspartners Lega enthielten. Hätten alle ­Lega-Leute dagegen gestimmt und sich Melonis Fratelli d’Italia enthalten, wäre das fragile Reformgebäude eingestürzt.

Vor diesem Hintergrund findet nun die Europawahl statt. Schon seit Monaten zeigen Projektionen, die auf der Grundlage nationaler Umfragen erstellt werden, in eine klare Richtung: Grüne und Liberale verlieren Stimmen, Sozial- und Christdemokraten bleiben stabil, während die beiden rechten Fraktionen – Europäische Konservative und Reformer (EKR) sowie Identität und Demokratie (ID) – deutlich zulegen können. Eine Prognose von EM-Analytics ergab kürzlich dieses Bild zur Sitzverteilung (in Klammern die aktuelle Verteilung): Linke 39 (37), Sozialdemokraten 139 (141), Grüne 51 (72), Liberale 86 (101), EVP 181 (178), EKR 86 (68), ID 76 (59), Sonstige 61 (49).

Im nächsten Parlament werden 720 Abgeordnete sein, die Mehrheit liegt also bei 361 Sitzen. Liberale, Sozial- und Christdemokraten kämen nach dieser Prognose auf 406 Sitze. Das wäre auf nationaler Ebene eine solide Mehrheit. Doch das Europaparlament kennt keine Fraktionsdisziplin, und bei einigen Themen ist die nationale Herkunft für das Stimmverhalten wichtiger als die politische Überzeugung. So werden die drei Familien zwar nach der Wahl Gespräche über ihre Schwerpunkte führen – dies aber in dem Wissen, dass sie Partner benötigen, um Gesetzesvorhaben durchzusetzen. Die Sozialdemokraten blicken dann nach links, die Christdemokraten nach rechts. Aber dort, rechts, wird es mehr zu holen geben als links.

Melonis Kalkül ist schwer zu durchschauen

Der Fraktions- und Parteivorsitzende der EVP Manfred Weber hat diese Entwicklung schon seit Langem im Auge. Weber ist ein liberaler CSU-Politiker, kein „Grünen-Fresser“. Trotzdem hat er die Grünen als Partner abgeschrieben. Sie wollen zwar bei allem mitverhandeln, glaubt Weber, stimmen dann aber doch gegen Kompromisse. Gute Kontakte pflegt er dagegen zu Meloni, die auch Parteivorsitzende der nationalkonservativen EKR ist. Für eine politische Zusammenarbeit nennt er stets drei Bedingungen: Partner müssen für die EU sein, für Rechtsstaatlichkeit und für die Ukraine. Diese Kriterien erfüllen nicht nur die Fratelli d’Italia, sondern auch viele andere EKR-Mitglieder.

Inhaltlich gibt es viele Berührungspunkte in den Programmen. EVP und EKR wollen Asylverfahren in Drittstaaten auslagern, Bürokratie abbauen, den Mittelstand fördern und Klimaschutz nur mit den Unternehmen verwirklichen – wozu die Abkehr vom Verbrenner-Aus gehört. Außenpolitisch stehen sie für eine konsequente Unterstützung der Ukraine und einen scharfen Kurs gegenüber China.

Einer strategischen Allianz stand bisher die polnische PiS-Partei im Weg, die mit 25 Abgeordneten den größten Block stellt und in ihrer Regierungszeit den Rechtsstaat in Polen aushebelte. Weber setzt darauf, dass sich die Gewichte in der EKR nach der nächsten Wahl verschieben. Gemäß Prognose könnten die Fratelli d’Italia dann mit 25 Abgeordneten dort den Ton angeben, während PiS nur noch auf 14 Sitze käme. Allerdings ist Melonis Kalkül schwer zu durchschauen. Sie nahm gerade einen Abgeordneten auf, der zur Partei Reconquête des französischen Rechtsex­tremisten Eric Zemmour gehört. Außerdem klopft Viktor Orbán an ihre Tür – und erweckt den Eindruck, er habe schon eine Eintrittskarte für seine Abgeordneten, die seit dem Rauswurf aus der EVP keiner Fraktion mehr angehören.

Die AfD ist für Le Pen viel zu extrem

Sollte Meloni nach der Wahl Orbán die Tür öffnen, würden andere in der Fraktion durch sie hinausgehen: die Schwedendemokraten, die Finnen und die Partei ODS des tschechischen Ministerpräsidenten Petr Fiala. Die ODS hat dazu sogar schon einen Vorstandsbeschluss gefasst; sie will mit Orbán nichts zu tun haben. Fiala wäre auch in der EVP willkommen, Weber umwirbt ihn schon seit Langem. Auch andere könnten dorthin wechseln, etwa die flämischen Nationalisten von der NVA. Die Christdemokraten würden also sogar in diesem Szenario profitieren. Zwei Neuzugänge auf der Rechten haben sie ohnehin schon sicher. Die Bauernpartei und der Neue Gesellschaftsvertrag aus den Niederlanden werden sich der EVP anschließen, sobald sie ins Parlament gewählt sind.

Auch in der Rechtsaußen-Fraktion Identität und Demokratie rumort es. Dort sitzen Rechtspopulisten aus Frankreich und Italien neben Parteien, die in Teilen rechtsextremistisch sind: dem Vlaams Belang aus Belgien, der FPÖ aus Österreich und der AfD aus Deutschland. Dominiert wird die Gruppe von Marine Le Pens Rassemblement National und Matteo Salvinis Lega. Die Lega wird bei der Europawahl stark schrumpfen. Dagegen stehen die Franzosen blendend da. Sie könnten 27 Abgeordnete stellen und geben schon jetzt die Richtung vor. Die ist klar: Marine Le Pen will französische Präsidentin werden und richtet alles daran aus. Radikale Positionen wie die Forderung nach einem EU-Austritt hat sie schon geschleift.

Usula von der Leyen braucht jede Stimme, wenn sie nach der Europawahl im Amt bestätigt werden will.
Usula von der Leyen braucht jede Stimme, wenn sie nach der Europawahl im Amt bestätigt werden will.EPA

Deshalb sieht Le Pen mit Argusaugen auf die AfD, die ihr viel zu extrem ist. Das gilt besonders für den Abgeordneten Maximilian Krah, der bei der Europawahl als Spitzenkandidat antritt. Krah hat sich auf die Seite Zemmours geschlagen und Le Pen als zu lasch kritisiert. Dass nun seine Nähe zu China und Russland für Schlagzeilen sorgt, macht es nicht besser. Diese Woche wurde ein Assistent Krahs unter Spionageverdacht für China verhaftet, gegen ihn selbst laufen Vorermittlungen.

Krah war schon seinen jetzigen Kollegen von der AfD ein Dorn im Auge. Er werde in der Fraktion als „dangerously crazy“ gesehen, schrieb einer von ihnen 2022 dem Parteivorstand in Berlin. Der ließ sich damals nicht beeindrucken und hält auch jetzt in der Spionageaffäre an Krah fest. Das könnte allerdings gravierende Folgen haben. Aus der ID-Fraktion heißt es, Franzosen und Italiener wollten die AfD nach der Wahl hinauswerfen. Lieber würden sie dagegen Orbán aufnehmen, Geert Wilders aus den Niederlanden haben sie schon zugesagt.

Und was macht von der Leyen?

Das könnte einiges ändern. Bisher arbeitet die Fraktion kaum an Gesetzen mit, künftig könnten aber die Regierenden in den Hauptstädten daran Interesse haben. Schließlich müssen sie europäisches Recht umsetzen. Die Parlamentsmehrheit würde zwar beim „Cordon Sanitaire“ bleiben – jenem Sperrgürtel, mit dem sie bisher ID-Leute von Spitzenposten ferngehalten hat. Aber natürlich könnte sie die ID nicht davon abhalten, eine stärker nach rechts ausgerichtete Politik zu unterstützen.

Und was macht die EVP-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen? Eine glasklare Positionierung vermied sie in der ersten Debatte der EU-Spitzenkandidaten am Montagabend. Anders als Weber hat sie die Grünen noch nicht aufgegeben, wie in ihrer Umgebung beteuert wird. Von der Leyen braucht jede Stimme, wenn sie nach der Europawahl im Amt bestätigt werden will – und die Verhältnisse im nächsten Parlament werden noch unübersichtlicher sein. Allerdings hat sie ihren Kurs schon seit dem Herbst korrigiert und ein gutes Verhältnis zu Meloni aufgebaut. Die geht jetzt zwar im Wahlkampf auf Distanz zu ihr. Doch rechnet von der Leyen fest damit, dass die Italienerin sie nach der Europawahl unterstützen wird, wenn die Staats- und Regierungschefs die Posten verteilen. Das wird einen Preis haben: einen weiteren Ruck nach rechts in den nächsten fünf Jahren.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*