Das sind die Gründe für den deutschen Geburtenknick

Immer mehr Alte und immer weniger Junge – die demographische Entwicklung belastet die umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme und vermindert das Angebot an Arbeitskräften. In Deutschland kommen immer weniger Kinder zur Welt. Die Zahl der Geburten ist auf den niedrigsten Stand seit 2013 gesunken, teilte das Statistische Bundesamt am Donnerstag mit. Die Zahl der Erstgeburten rutschte sogar auf den niedrigsten Stand seit dem Jahr 2009, als Daten zur Geburtenfolge erstmals erfasst wurden.

Die Entwicklung in Deutschland fügt sich in einen Trend, der mittlerweile nahezu alle Länder der Welt erfasst. Als mögliche Ursachen nennen Wissenschaftler ein Zusammenspiel von multiplen Krisen und veränderten persönlichen Lebensstilen und Präferenzen. Die Familienpolitik in Deutschland sei zu sehr auf die Probleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf fixiert, kritisiert die Soziologin Katja Rost von der Universität Zürich. Was fehle, sei ein positives Familienbild.

Im Jahr 2023 wurden in Deutschland nach vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes rund 693.000 Kinder geboren. Das waren 6,2 Prozent weniger als im Vorjahr. Die Marke von 700.000 Geburten wurde zuletzt 2013 unterschritten; damals waren rund 682.000 Kinder zur Welt gekommen. Nach Angaben des Bevölkerungsforschers Martin Bujard lag die Geburtenrate 2023 bei etwa 1,36 und damit im europäischen Mittelfeld. Die Kennzahl gibt, grob gesprochen an, wie viele Kinder in einem Land im Durchschnitt in einem Jahr geboren werden. Um die Bevölkerung durch Geburten langfristig auf einem konstanten Niveau zu halten, müsste die Marke von 2,1 erreicht werden.

Verunsicherung aufgrund vieler Krisen

„Ein zentraler Grund für den Geburtenrückgang 2023 liegt in der großen Verunsicherung von jungen Erwachsenen aufgrund der multiplen Krisen“, sagte Bujard der F.A.Z. Der Professor für Medizinische Soziologie an der Universität Heidelberg und Forschungsdirektor für Familie und Fertilität am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung verwies auf die Nachwirkungen der Pandemie und die Sorgen junger Leute wegen des Klimawandels. „Dann kam der Ukrainekrieg hinzu, der Ängste einer Eskalation und konkrete ökonomische Sorgen brachte, da die Energiepreise und die Inflation deutlich stiegen.“ Die Politik könne helfen, die Krisen abzufedern und Sicherheit zu vermitteln. Für angehende Familien sei eine verlässliche ganztägige Betreuung in Kita und Schule zentral. Bujard verwies außerdem auf die Bedeutung von Elternzeit und vollzeitnahe Teilzeitangebote. „Gerade die Arbeitgeber sollten familienfreundlicher sein, damit Mütter nicht beruflich dauerhaft Nachteile haben.“

In Ostdeutschland sank die Geburtenzahl 2023 besonders stark. Die Statistiker verzeichneten einen Rückgang von 9,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Westdeutschland betrug der Rückgang 5,9 Prozent. Die Soziologin Rost, die selbst aus Thüringen kommt, erklärt diese Entwicklung mit demographischen Ungleichgewichten. Vor allem viele Frauen hätten die ostdeutschen Bundesländer wegen mangelnder Perspektiven verlassen.

Ausländische Mütter oft mit mehr als drei Kindern

Ein weiteres Detail aus der Statistik: Trotz des Geburtenrückgangs stieg der Anteil der Geburten von Kindern, die schon mindestens zwei Geschwister haben. Hier wurde 2023 mit 18,7 Prozent ein neuer Höchststand seit Beginn der Zeitreihe 2009 erreicht. Diese Entwicklung ist nach Angaben der Statistiker vor allem darauf zurückzuführen, dass Mütter mit ausländischer Staatsangehörigkeit im Vergleich zu deutschen Müttern deutlich häufiger drei und mehr Kinder bekommen.

Die insgesamt niedrige Geburtenzahl führt der Ökonom Wido Geis-Thöne vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln auf das Zusammenspiel von zwei Faktoren zurück. Zum einen hätten historische Ereignisse dazu geführt, dass die Geburtenentwicklung in Deutschland seit Jahrzehnten in Wellen verlaufe. Vor diesem Hintergrund sei in den frühen 2020er- Jahren „ganz klar ein Geburtenrückgang zu erwarten gewesen“. Hinzu kämen Einflüsse durch die Corona-Pandemie. Es gebe Hinweise, dass der Lockdown sich positiv auf die Geburtenentwicklung ausgewirkt habe. Mit der Corona-Schutzimpfung und Sorgen, diese könne sich in der Schwangerschaft negativ auswirken, sei dann aber ein neuer Faktor hinzugekommen, der dazu geführt haben könnte, den Kinderwunsch aufzuschieben.

Die Soziologin Rost gibt zu bedenken, dass Kinderlosigkeit freiwillige und unfreiwillige Gründe habe. Lebensentwürfe hätten sich geändert. Hinzu komme, dass „Familie heutzutage ein negatives Kon­strukt ist“, woran die Politik Mitschuld trage. Rost schlägt vor, zur Familiengründung während des Studiums oder der Ausbildung zu ermutigen. Eine Auszeit lasse sich in der Phase eher realisieren, als wenn die berufliche Karriere mit ihren vielen Verpflichtungen starte.

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