Angriff auf SPD-Politiker: So unsicher ist der Straßenwahlkampf

Die Grünen in Sachsen werden ihre Wahlkämpfer nicht mehr allein auf die Straße schicken. Auch die CDU geht in vielen Orten nur noch in größeren Gruppen plakatieren. In anderen Parteien gibt es ähnliche Überlegungen. Das ist keine leichte Entscheidung, wenn es nur wenige Mitglieder gibt. Doch immer öfter werden Politiker angegriffen, selbst das Aufhängen von Plakaten ist in Sachsen gefährlich geworden. Das haben die ersten Tage des Wahlkampfs zur Europa-Wahl und den Kommunalwahlen am 9. Juni gezeigt. Spätestens seit dem Wochenende ist die Lage nun für alle sichtbar geworden. Da wurde in Dresden der SPD-Europaabgeordnete Matthias Ecke von Unbekannten zusammengeschlagen. Er wurde dabei so schwer verletzt, dass er ins Krankenhaus eingeliefert wurde und operiert werden muss.

Nach bisherigen Erkenntnissen spielte sich die Tat so ab: Eine Gruppe von vier jungen Männern, laut Polizei alle dunkel gekleidet und zwischen 17 und 20 Jahren alt, griff den SPD-Politiker gegen 22.30 Uhr an, als er in der Schandauer Straße im eher bürgerlichen Dresdner Ortsteil Striesen Plakate aufhängte. Ein Zeuge ordnete die Männer dem rechtsradikalen Spektrum zu. Ein anderes SPD-Mitglied, das mit dem 41 Jahre alten Ecke unterwegs war, konnte nach Angaben der Partei nicht mehr eingreifen. Wenige Minuten zuvor hatten die Männer in der gleichen Straße einen 28 Jahre alten Wahlhelfer der Grünen attackiert, ihn geschlagen und auf ihn eingetreten, als er schon am Boden lag.

In der Nacht zu Sonntag stellte sich ein 17 Jahre alter Jugendlicher der Dresdner Polizei. Wie das sächsische Landeskriminalamt mitteilte, gab er an, Matthias Ecke niedergeschlagen zu haben. In Gewahrsam ist der Verdächtige nicht, denn von einer Fluchtgefahr geht die Polizei nicht aus.

Die Gewalt greift schon länger um sich

Viele Politiker zeigten sich über den brutalen Angriff auf Ecke entsetzt, es gab eine bundesweite Welle der Solidarität. Wirklich überraschen konnte die Attacke aber kaum. Vor zunehmender Gewalt im Vorfeld der kommenden Wahlen warnen Politiker seit Monaten. Vor allem Kommunalpolitiker wurden in den vergangenen Jahren immer öfter Opfer von Anfeindungen. Sie werden auf der Straße aggressiv angegangen, oft finden die Proteste direkt vor dem privaten Wohnhaus statt. Im Februar forderte das sächsische Justizministerium deswegen eine Verschärfung des Strafrechts. Dort plädiert man dafür, eine „Beeinflussung staatlicher Entscheidungsträger“ ins Strafrecht aufzunehmen. Eine entsprechende Reform will der Freistaat im Juni auf dem Treffen der Justizminister vorantreiben.

In Sachsen, Thüringen und Brandenburg finden im September Landtagswahlen statt und schon länger greift die Gewalt im Wahlkampf um sich. Schon am vorigen Wochenende hatte es in Sachsen mehrere Angriffe auf Wahlhelfer der Grünen gegeben. In Zwickau waren zwei von ihnen von vier Männern attackiert und gezwungen worden, Wahlplakate wieder abzuhängen. Auch in Chemnitz war ein Grünen-Vertreter angegriffen worden. In Freiberg und Penig wurden ebenfalls Wahlhelfer der Grünen attackiert, als sie Plakate anbrachten.

Es sind Übergriffe, die einem landesweiten Trend entsprechen. Nach Angaben des sächsischen Innenministeriums wurden seit Beginn des Jahres 112 politisch motivierte Straftaten im Zusammenhang mit Wahlen registriert. 30 richteten sich demnach gegen Amts- und Mandatsträger. Allein in der ersten Woche des Wahlkampfs seien 51 Straftaten wegen beschädigter oder zerstörter Wahlplakate gezählt worden, wobei es oft um mehr als nur ein Plakat gegangen sei.

Die Polizei soll Wahlkämpfer schützen

Nach dem Angriff auf Matthias Ecke sprach Sachsens Innenminister Armin Schuster am Samstag von einer neuen Dimension der Gewalt. Nun gehe es auch um gefährliche Körperverletzung. Er bot den Parteien an, die Polizei im Vorfeld „über sehr relevante Wahlkampfaktionen“ zu informieren, damit sie eine Chance habe, einzugreifen. Zwischen Polizei und Parteien müsse es neue Kooperationen geben, um das Recht auf freie Wahlen zu schützen. Jetzt gelte es, „Flagge zu zeigen“.

Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik in Sachsen zeigen, dass die Gewalt schon seit vergangenem Jahr deutlich zunimmt. Die Zahl der polizeilich registrierten Angriffe auf Amtsträger – Bürgermeister, Landtags- oder Bundestagsabgeordnete – stieg von 270 im Jahr 2022 auf 302 im letzten Jahr. Auf Ebene der Kommunen, etwa der Stadt- und Gemeinderäte, waren 2022 45 Fälle registriert worden, 2023 waren es 77. Die Zahl der Angriffe mit rechtsextremem Hintergrund stieg von 50 auf 128.

Einige Zeit wurden in Sachsen Politiker von CDU und AfD am häufigsten angegriffen – auch am Samstagnachmittag kam es in Dresden zu einem Angriff auf einen Wahlkampfstand der AfD. Die meisten Anfeindungen erleben in Sachsen aber inzwischen Grünen-Politiker. 2021 richteten sich noch vier Vorfälle gegen Amtsträger der Grünen, 2022 waren es 22, im vergangenen Jahr dann 64, wie die „Leipziger Volkszeitung“ mit Bezug auf die Kriminalstatistik berichtet. Danach folgt die SPD mit 13 Angriffen.

Verbale Attacken und Schläge ins Gesicht

All das sind Entwicklungen, die sich nicht nur in Sachsen vollziehen. In ganz Deutschland kommt es immer wieder zu Angriffen auf Politiker. Am Samstagmorgen wurde im niedersächsischen Nordhorn laut Polizei ein AfD-Landtagsabgeordneter an einem Infostand angegriffen und geschlagen. Einen Tag zuvor war der Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring eigenen Angaben zufolge zusammen mit seinem Parteikollegen Rolf Fliß in Essen attackiert worden. Nach einem „typischen, zufälligen und zunächst freundlichen Bürgergespräch“ hätten Passanten die beiden unvermittelt beleidigt und Fliß schließlich ins Gesicht geschlagen, schrieb Gehring auf Facebook.

Nimmt man alle Deliktsarten in den Blick, dann erleben Grünen-Politiker wie er und Fliß inzwischen die meisten Anfeindungen. Das ging Ende Januar auch aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der AfD hervor. Während sich im Jahr 2022 in ganz Deutschland 782 Delikte gegen Politiker der AfD richteten und 296 gegen die Grünen, waren es 2023 laut vorläufigen Zahlen bei der AfD 478 – und 1219 bei den Grünen. Auch gegenüber anderen Parteien der Ampelkoalition nehmen die Anfeindungen zu, bei den Grünen aber am deutlichsten. Gewaltdelikte richteten sich 2023 am häufigsten gegen AfD-Politiker (86 AfD, 62 Grüne, 35 SPD); 2022 waren es 51 gegen die Grünen und jeweils 40 gegen die AfD und gegen die SPD gewesen.

In Brandenburg entlud sich die Wut kürzlich gegen Katrin Göring-Eckardt. Nach einer Veranstaltung setzten Demonstranten in Lunow-Stolzenhagen das Auto der Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin fest. Göring-Eckardts Büro teilte der „Bild“-Zeitung mit, dass sich 40 bis 50 Personen vor dem Veranstaltungssaal versammelt hätten. Auf dem Weg zu ihrem Fahrzeug sei die Politikerin dann bedrängt worden.

Eine Dreiviertelstunde im Wagen festgesessen

Sie und ihr Fahrer hätten im Wagen verharrt, während mehrere Personen „in aggressiver Stimmung“ auf das Dach des Fahrzeugs eingeschlagen hätten. Erst eine Dreiviertelstunde später sei die Abfahrt möglich gewesen, nachdem die Polizei Verstärkung gerufen habe. Göring-Eckardt kritisierte anschließend, dass die Polizei nicht ausreichend vorbereitet gewesen sei und forderte „ein stärkeres Bewusstsein der Sicherheitsbehörden“. Demonstrations- und Meinungsfreiheit müssten geschützt werden, sagte sie im „Stern“.

Störaktionen gab es Mitte Februar auch im baden-württembergischen Biberach. Dort sagten die Grünen eine Veranstaltung zum Politischen Aschermittwoch schließlich wegen Sicherheitsbedenken ab. Im schleswig-holsteinischen Schlüttsiel konnte Anfang des Jahres eine Fähre mit dem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck nicht anlegen, weil Bauern den Hafen blockierten.

Wie der Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke nun einmal mehr gezeigt hat, trifft es nicht nur Bundespolitiker. Schon Ende 2022 war eine Studie der Universität Duisburg-Essen zu dem Ergebnis gekommen, dass rund 60 Prozent aller kommunalpolitisch Engagierten schon einmal Anfeindungen und Übergriffe erlebt haben. Knapp die Hälfte der Befragten berichtete von Beleidigungen und Bedrohungen durch Anrufe, E-Mails, Briefe oder Faxe. Jeder Zweite war demnach über soziale Netzwerke oder in direkter Begegnung angefeindet worden.

Dresden ist der Hotspot

Die meisten Vorfälle ereigneten sich laut der Studie, die von der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung in Auftrag gegeben war, in Sachsen, Thüringen, Bayern und Nordrhein-Westfalen. Die allermeisten in Dresden. Dort gaben fast 90 Prozent der Mandatsträger an, schon einmal Anfeindungen erlebt zu haben. An zweiter und dritter Stelle standen Erfurt und München. Der Politikwissenschaftler und Mitautor der Studie, Andreas Blättle, sprach damals von „alarmierenden Ergebnissen“. Er forderte „eine Stärkung der Schutzstrukturen“ und Strafverfolgungsbehörden, „die gut genug ausgestattet sind, um Anzeigen nachzugehen.“

Mehrere Bundesländer haben inzwischen auch Gesetze geändert, um Politiker besser zu schützen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein etwa. Dort werden bei Kommunalwahlen nicht mehr die vollständigen Adressen der Kandidaten auf dem Stimmzettel veröffentlicht.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser kündigte am Sonntag eine Sonderkonferenz der Innenminister von Bund und Ländern an. Dort solle über „ein gemeinsames Maßnahmenpaket für noch mehr Präsenz der Polizei vor Ort, mehr Schutz und ein hartes Durchgreifen gegen die Feinde der Demokratie“ beraten werden, sagte Faeser der „Bild am Sonntag“. Es gehe darum, die Täter zu stoppen, „und die Brandstifter, die unsere Demokratie in Brand setzen wollen.“

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