Folgen des Kriegs: „Dann droht Israel zum Entwicklungsland zu werden“

Herr Yashiv, fühlen Sie sich im Alltag in Tel Aviv derzeit sicher?

Grundsätzlich ja. Aber die Lage ist seit dem 7. Oktober angespannt. Der iranische Drohnenangriff im April hat die Unsicherheit erhöht, die Stimmung im Land ist schlecht. Die größte Unruhe entsteht aber im Inneren.

Warum das?

Es herrscht eine große Unzufriedenheit mit der Politik der Regierung. Bei Protesten kommt es immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei. Das macht die Menschen nervös.

Auch der Zustand der Wirtschaft ist nicht gerade beruhigend. Das Bruttoinlandsprodukt ist Ende letzten Jahres um 5,2 Prozent zum Vorquartal eingebrochen. Wie bedrohlich ist diese Krise?

Die Schrumpfung Ende 2023 geht klar auf den Krieg zurück. Sehr viele Menschen, vor allem junge Männer, wurden zum Militärdienst eingezogen. Sie haben in Unternehmen und als Angestellte in Cafés und Restaurants gefehlt. Bis zu 220.000 Menschen, die in der Nähe der Grenzen im Norden und Süden des Landes gelebt haben, mussten zudem fliehen oder haben ihre Wohnorte verlassen. Arbeiter aus der Westbank und anderen Ländern bleiben weg, und der Tourismus ist weggebrochen. Das alles von einem Tag auf den anderen. Die große Frage ist, ob das alles eine einmalige, vorübergehende Sache ist.

Was ist Ihre Prognose?

Die Unsicherheit ist extrem groß. Von den eingezogenen Männern wurden Anfang des Jahres zwar viele wieder entlassen, aber die vertriebenen Menschen sind noch immer nicht in ihre Häuser nahe der Grenze zurückgekehrt. Der Tourismus liegt am Boden, und es wurden zuletzt auch wieder mehr Männer eingezogen, die genauen Zahlen hält die Regierung geheim. Die Prognosen für das Wirtschaftswachstum bewegen sich für das laufende Jahr zwischen plus und minus 2 Prozent, ich erwarte, dass wir uns in dieser Spanne bewegen werden. Das ist nicht tragisch. Ich sehe aber eine andere große wirtschaftliche Gefahr.

Welche?

Der Hightech-Sektor ist absolut entscheidend für unsere Volkswirtschaft. Im schlechtesten Fall verlieren wir diese Branche. Dann droht Israel zum Entwicklungsland zu werden.

Das müssen Sie erklären.

Der Hightech-Sektor ist für 17 Prozent unserer Wirtschaftsleistung und mehr als die Hälfte unserer Exporte verantwortlich. 90 Prozent der Unternehmen sind allerdings auf Investitionen aus dem Ausland angewiesen. Seit neun Monaten, also schon etwas vor Kriegsbeginn, gehen diese Investitionen zurück. Anfang dieses Jahres hat sich der Negativtrend sogar noch verstärkt.

Eran Yashiv
Eran Yashivprivat

Was sind die Gründe für die Negativdynamik?

Es gibt mehrere Gründe: In den Unternehmen arbeiten viele junge Männer, die plötzlich nicht mehr verfügbar waren. Dann haben sich viele Unternehmen an den Protesten gegen die Regierung beteiligt. Die Investoren schätzten dieses Engagement, äußerten sich jedoch skeptisch über die Aussichten der israelischen Wirtschaft und das wirtschaftliche und rechtliche Umfeld. Unsicherheit mögen sie natürlich gar nicht. Wir erleben jetzt schon, dass erste Unternehmen abwandern, zum Beispiel nach Amerika. Und vor allem werden neue Start-Ups nicht mehr in Israel, sondern im Ausland gegründet. Das könnte sich zu einem schleichenden Prozess entwickeln, der nicht sofort spürbar ist, langfristig aber sehr wehtut. Ich sehe Parallelen zu Griechenland in der Eurokrise?

Warum?

Griechenland hatte zwar keinen großen Hightech-Sektor, aber sehr wohl hochqualifizierte Menschen. Etwa 5 Prozent der Bevölkerung sind damals ausgewandert – und größtenteils bis heute nicht zurückgekehrt.

Sie sehen also den Wohlstand Israels in Gefahr?

Ja, so ist es. Das ist auch deshalb zu befürchten, weil es zwei größere Gruppen gibt – die orthodoxen Juden und die arabischen Menschen – die zusammen etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen und überwiegend in Wirtschaftsbereichen mit geringer Produktivität arbeiten. Sie sind auf staatliche Hilfe angewiesen und damit auf einen prosperierenden Hightech-Sektor, der viele Steuern zahlt.

Die Haushaltslage ist schon jetzt kritisch. Die israelische Notenbank prognostiziert für das Jahr 2024 ein Defizit in Höhe von 6,6 Prozent. Droht da eine Schuldenkrise?

Es fließen jetzt natürlich viele Steuerausgaben ins Militär. Aber die Schuldenquote gemessen an der Wirtschaftsleistung wird trotz des Defizits nur auf etwa 66 Prozent steigen. Das ist weit weg davon, alarmierend zu sein.

Die Türkei hat wegen der Angriffe auf den Gaza-Streifen vor wenigen Tagen den Handel mit Israel verboten. Das Land ist immerhin Israels sechstgrößter Handelspartner, es geht um ein Volumen von 7 Milliarden Dollar. Was werden die Folgen sein?

Das ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar, weil es noch keine aktuellen Daten gibt. Die Türkei ist aber vor allem als Lieferant von Lebensmitteln wichtig, viele Israelis haben zudem Urlaub in der Türkei gemacht. Entscheidend wird sein, wie gut es gelingen wird, den wegfallenden Handel mit der Türkei durch andere Handelspartner zu ersetzen.

Wie schätzen Sie die Aussichten ein?

Das Beispiel Deutschland macht Hoffnung. Der Wegfall des russischen Erdgases war zwar schmerzhaft, konnte aber verhältnismäßig gut kompensiert werden. In diesem Zusammenhang möchte ich die ausgezeichnete Studie meines Kollegen Ben Moll von der London School of Economics über das russische Gas in Deutschland empfehlen, der die Effekte sehr treffend abgeschätzt hat.

Israel forciert die Offensive in Rafah, trotz Warnungen aus dem Westen. Besteht jetzt nicht die Gefahr, dass sich noch weitere Länder wirtschaftlich abwenden werden?

Das dürfte davon abhängen, wie aggressiv Israel in Rafah vorgeht. Momentan habe ich den Eindruck, dass die Offensive begrenzt und vergleichsweise moderat sein wird. Aber es kann natürlich auch anders kommen, auch eine Eskalation im Westjordanland ist nicht ausgeschlossen. Dann könnten sich auch andere Länder, selbst China, abwenden, den Handel aussetzen oder Sanktionen auf den Weg bringen.

Auf den Jom-Kippur-Krieg im Jahre 1973 folgte in Israel ein Jahrzehnt mit stagnierender Wirtschaft und hoher Inflation. Wird es wieder so kommen?

Damals wurden Schulden monetarisiert, zum Preis einer sehr hohen Inflation. Das sehe ich aktuell nicht. Die Inflation sinkt, die israelische Notenbank orientiert sich an der amerikanischen Fed und rechnet auf Jahressicht mit 2,7 Prozent Preissteigerung. Wenn ich an historische Vergleiche denke, macht mir die Regierung größere Sorgen als eine lange Stagflation.

Warum?

In den achtziger Jahren hat die Likud-Regierung schwere wirtschaftspolitische Fehler begangen. Auch jetzt führt diese Partei die Koalition und macht viel falsch. Jüngstes Beispiel ist der gerade verabschiedete Haushalt. Obwohl wir durch den Krieg eine völlig neue Situation haben, hat die Regierung Business-as-usual gemacht, die Steuern nicht ausreichend angepasst und Gelder wie geplant nach den eigenen Interessen verteilt. Das ist ein Missmanagement, das die Produktivität schwächt. Diese Regierung gefährdet das Land also in vielerlei Hinsicht.

Israelischer Spitzenforscher

Eran Yashiv ist Makroökonom der Tel Aviv University und Mitglied des Centre for Macroeconomics der London School of Economics. Sein Forschungsschwerpunkt ist der Arbeitsmarkt, er beschäftigt sich aber auch mit Migration, dem Gesundheitswesen und anderen wichtigen Themen. Yashiv hat zahlreiche Forschungsarbeiten in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlicht, darunter das renommierte Journal „American Economic Review“.

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