Das Schicksal der „Verschickungskinder“: Als die Kur zur Qual wurde

Das Kindersanatorium Haus Bernward in Bonn-Oberkassel befand sich in einer herrschaftlichen Villa mit weitläufigem Park direkt am Rhein. Unbeschwerte Som­merferien würde er hier nicht verbringen, das ahnte der zwölf Jahre alte Detlef Lichtrauter schon, als er im Sommer 1973 mit anderen Neuankömmlingen in die Eingangshalle geführt wurde. Marmorboden, die Wände mit schwerem dunklen Holz vertäfelt – alles war einschüchternd, bedrückend an Haus Bernward. Vom ersten Moment an herrschte ein rauer Befehlston: „Mund halten!“, „Stehen bleiben!“, schnauzten die „Tanten“. Lichtrauter erinnert sich, dass er das kleine Päckchen mit Süßigkeiten abgeben musste, das ihm seine Eltern bei der Abreise zugesteckt hatten. „Den an­deren ging’s genauso.“

Reiner Burger

Politischer Korrespondent in Nordrhein-Westfalen.

Dann wurden die Jungen und Mädchen eine Treppe hinab in einen düsteren kleinen Kellergang geführt, wo sie sich still auf eine lange Bank setzen mussten. Einzeln wurden die Kinder in den Be­handlungsraum gerufen. „Eine ‚Tante‘ untersuchte mich rabiat mit einem Kamm auf Läuse“, erinnert sich Detlef Lichtrauter. Danach ging es weiter an ei­nen Tisch. „Kopf runter!“ Detlef musste seine erste Postkarte schreiben. Eine „Tante“ diktierte: „Liebe Mutti, lieber Papa, ich bin gut in Oberkassel angekommen, mir gefällt es gut, die Sonne scheint, das Essen schmeckt.“ Woche für Woche wiederholte sich das Ritual. Karten, auf denen von Heimweh die Rede war, wurden genauso vor den Augen der Kinder zerrissen wie nicht unter Aufsicht geschriebene Briefe. Alles wurde gelesen. Es herrschte strikte Zensur.

Nach Schätzungen der „Initiative Verschickungskinder“ wurden in den ersten vier Jahrzehnten seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland zwischen acht und zwölf Millionen Kinder ohne Eltern in wochenlange Kuren in Heime, Heilstätten und Sanatorien gegeben. Manche haben gute Erinnerungen an diese Zeit. Doch viele der Mädchen und Jungen im Alter zwischen zwei und 14 Jahren fanden keine Erholung, sondern durchlitten sechs, manchmal auch zwölf Wochen Tortur mit Schlafentzug, Toilettenverbot, gewaltsamer Essenseintrichterung von Mehl-, Linsen- oder Specksuppen bis zum Erbrechen, Wegsperren in Gitterbetten, Besenkammern und Kellern, Gruppendemütigungen und anderen Stra­fen aus dem fürchterlichen Arsenal der „Schwarzen Pädagogik“.

„Fast alle schreiben: Endlich bin ich nicht mehr allein!“

Vor zwei Jahren machte die Sonderpädagogin und Autorin Anja Röhl das Trauma dieser Kinder erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt und gründete mit anderen Betroffenen die „Initiative Verschickungskinder“. Röhl hat ein Ventil geöffnet. Seither bekommt sie täglich neue Zuschriften, in denen sich Be­troffene häufig nach Jahrzehnten zum ersten Mal mitteilen. Die Berichte drehen sich um Angst, Trauer, Heimweh, Ohnmacht, Vertrauensverlust, das Ge­fühl, verlassen, ausgeliefert zu sein. „Fast alle schreiben mir: Endlich bin ich nicht mehr allein“, sagt Röhl, die im Alter von fünf Jahren selbst schreckliche Wochen auf der Nordseeinsel Föhr erlebte und mit acht Jahren im Teutoburger Wald ein zweites Mal in „Kur“ musste.

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