Interview: Warum die Shoppingplattform Temu so erfolgreich ist

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Stand: 26.04.2024 10:40 Uhr

Seit die Shoppingplattform Temu vor einem Jahr in Deutschland aktiv wurde, hat sie viele neue Nutzer gewonnen. Der Handelsexperte Gerrit Heinemann erklärt im Interview die Gründe dieses rasanten Wachstums.  

tagesschau24: Temu hat in Deutschland schnell neue Nutzer gewonnen. Wie wird sich die App in Zukunft entwickeln?

Gerrit Heinemann: Wenn man sich die Entwicklung in den USA anschaut, wo Temu bereits seit zwei Jahren aktiv ist, kennen 90 Prozent der Bürger diese Plattform, und 50 Prozent haben dort schon eingekauft.

Bei uns in Deutschland wird es auch in diese Richtung gehen. Ich gehe davon aus, dass sich die Käuferzahl innerhalb des nächsten Jahres verdoppeln wird und noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist.  

tagesschau24: Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?  

Heinemann: Temu versteht es zu vermarkten und betreibt in Kombination mit Künstlicher Intelligenz und Kundendaten Online-Marketing. Wenn ich zum Beispiel ein Produkt im Internet suche, dann werden mir immer automatisch Produkte von Temu angezeigt.

Und genau das ist auch im Grunde das Geschäftsmodell von Temu. Denn die Shoppingplattform verdient nicht in erster Linie mit den Transaktionen, sondern mit der Vermarktung der Produkte Geld. Dadurch macht Temu mittlerweile gigantische Umsätze und ist vor allem auch enorm profitabel.  

Glücksspiele und Videos sollen auf der Plattform halten

tagesschau24: Temu bietet immer wieder Rabattaktionen an. Nutzer können zum Beispiel Glücksräder drehen und sich dadurch zusätzlich Rabatte sichern. Ist das Teil dieser Strategie?   

Heinemann: Den Onlinehandel gibt es mittlerweile seit 30 Jahren. Es ist also kein Geheimnis, dass die Kaufwahrscheinlichkeit höher ist und auch mehr gekauft wird, wenn Kunden lange in einem Onlineshop oder auf einer Plattform gehalten werden. 

Und genau das macht eben Temu exzellent über Glücksspiele und Videos, die da eingesetzt werden. Im Grunde ist das modernes Marketing. Experten nennen das eine „Multiexperience- Plattform“.   

tagesschau24: Und dann müssen wir unbedingt über die niedrigen Preise sprechen. Sogar Produkte wie Waschmaschinen oder Staubsauger werden auf Temu für vergleichsweise wenig Geld angeboten. Wie kann man sich das erklären?  

Heinemann: Es ist eine Kombination aus verschiedenen Dingen, die Temu da praktiziert. Zum einen ist Temu ja eine Plattform für Hersteller, die dann über Temu direkt verkaufen. Es sind überwiegend kleinere oder mittelständische Hersteller aus China.

Und dann umgeht Temu Zollgebühren. Angeblich sollen 65 Prozent der Waren falsch deklariert sein. Bestellungen werden beispielsweise immer in Einzelpakete verpackt, sodass diese einen Warenwert von 150 Euro nicht überschreiten und dementsprechend auch nicht zollpflichtig sind. Das macht schon mal eine große Preisdifferenz aus.

Dann unterstelle ich Temu auch – gerade den Herstellern und Lieferanten aus China -, dass auch nicht immer Umsatzsteuern abgeführt werden. Und in dieser Kombination darf es nicht verwundern, dass die Artikel mindestens 50 Prozent günstiger sind als woanders.  

Auch der Großhandel wird verdrängt

tagesschau24: Die günstigen Preise und die Rabattaktion machen Temu für Kunden attraktiv. Auf der anderen Seite sind die Lieferzeiten wesentlich länger als bei anderen Plattformen. Nehmen Kunden das in Kauf?  

Heinemann: Die Kunden nehmen das in Kauf, denn die Lieferzeiten sind immer noch in einem akzeptablen Rahmen, und im Zweifel geht es immer um den Preis. Und man muss auch dazusagen, dass die meisten Lieferanten auf Amazon ebenfalls aus China kommen.

Aber die neuesten Informationen, die ich gehört habe, erschüttern mich: Anscheinend sollen mittlerweile auch Händler Artikel auf Temu bestellen, die sie sonst über den Großhandel beziehen würden.

Die Händler machen das deshalb, weil es sich zum Teil um ähnliche Artikel handelt, diese auf Temu allerdings schlicht und ergreifend günstiger sind. Demzufolge betreibt Temu auch schon im großen Stil Großhandelsgeschäfte – also von Unternehmen zu Unternehmen.  

tagesschau24: Was kann dagegen getan werden?  

Heinemann: Ich appelliere an den Gesetzgeber, bei den Zollkontrollen genau hinzuschauen. Denn wir haben es hier mit unfairem Wettbewerb zu tun. Das sollte unbedingt und vor allem schnell korrigiert werden.

Denn Temu wird aktiv bleiben und ähnlich wachsen, wie die chinesische Plattform Pindoudou, die genauso wie Temu dem chinesischen Mutterkonzern PDD Holdings gehört. Beide Plattformen sind erst seit wenigen Jahren aktiv und in kürzester Zeit explosionsartig gewachsen.

Das ist das sogenannte chinesische „Leapfrogging“, also das schnelle Vorankommen bei Entwicklungsprozessen. Vergleichbare Wachstumsraten kennen wir bisher nicht. 

tagesschau24: Hat Temu in ihren Augen das Potenzial, perspektivisch Plattformen wie Amazon, Zalando und Co. vom Markt zu drängen?  

Heinemann: Das merkt man ja schon an der Reaktion von Amazon. Man hört, dass Temu in den USA anderen Plattformen bereits 20 Prozent der Online-Transaktion abgezogen hat. Etwas Ähnliches könnte auch hier passieren. Insofern ist Temu unter Umständen der potenzielle „Amazon-Killer“.

Selbst wenn Temu es nicht schafft, ist die nächste Plattform in China schon unterwegs, nämlich TikTok Shop. Von denen hört man, dass sie noch aggressiver sein soll und noch schneller wächst.

Wir haben es regelrecht mit einem Angriff von Plattformen aus China zu tun. Und das wird wahrscheinlich in den nächsten Jahren so weitergehen.  

Die Fragen stellte Anne-Catherine Beck, ARD-Finanzredaktion. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redaktionell bearbeitet.

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