Artenschwund: Im Boden ist der Wurm drin

Sechs Wochen lang steckte Marion Mittmannsgruber allabendlich Zahnstocher in 72 Pflanztöpfe, die mit Erde und Regenwürmern gefüllt waren. Die Hälfte der Behälter im Glashaus der Universität für Bodenkultur in Wien deckte sie über Nacht ab; zwölf Stunden Finsternis. Die andere Hälfte setzte sie einer schummrigen Deckenbeleuchtung aus, die gerade noch zum Zeitunglesen reichte. Am nächsten Morgen zählte die Agrarökologin die umgeworfenen Holzstäbchen und schloss daraus auf die Aktivität der Regenwürmer.

Lichtscheu

Es zeigte sich, dass sich Lumbricus terrestris bei Licht um 76 Prozent seltener an die Oberfläche wagte. Auch 85 Prozent der Paarungsakte fanden im Verborgenen statt. Üblicherweise tut sich der Zwitter mit der stundenlangen Fortpflanzung unter freiem Himmel leichter. „Lichtverschmutzung hat einen großen negativen Effekt – nicht nur auf Regenwürmer“, fasst Mittmannsgruber ihre Ergebnisse, kürzlich in BMC Ecology and Evolution veröffentlicht, zusammen.

Hierzulande graben sich 62 von global rund 3.000 Regenwurm-Arten in verschiedenen Tiefen durch die Böden. Die Bioindikatoren zeigen an, ob das unterirdische Ökosystem intakt oder aus dem Gleichgewicht ist. In Großbritannien nahm die Zahl der Regenwürmer in den vergangenen 25 Jahren um 30 Prozent ab, der Trend lässt sich wohl auf Österreich umlegen. Dabei setzt nicht nur Lichtverschmutzung den Wenigborstern zu.

Sinnlos
Regenwürmer haben keine Ohren, Nase und auch keine Augen. Mit Sinneszellen unterscheiden sie hell-dunkel. Sie reagieren sensibel auf Vibrationen.

Nützlich
Mit dem Mund ziehen Regenwürmer Pflanzenreste in ihr Tunnelsystem. Ihre spiralförmigen Ausscheidungen sind nährstoffreich, ihre Gänge lockern und lüften den Boden.

Schädlich
Europäische Arten, die ab dem 17. Jahrhundert in Nordamerika eingeschleppt wurden, bringen dort invasiv die gesamte Bodenchemie 
durcheinander.

Hitzeempfindlich

„Es sind vor allem klimatische Bedingungen, die das Vorkommen von Regenwürmern bedingen“, sagt Julia Seeber. Die Forscherin am Institut für Ökologie der Uni Innsbruck hat mit 140 Kollegen eine Weltkarte der Regenwurmverbreitung erarbeitet. Dafür hob sie Bodenblöcke in Standardgröße aus, nahm sie mit ins Labor und bestrahlte sie von oben mit einer Glühlampe. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Tierchen auf der Flucht vor der Hitze unten aus dem Erdziegel krochen und aus einer Auffangschüssel geklaubt werden konnten. Für die Strommethode, die Würmer mittels elektronischer Impulse aus der Erde kitzelt, braucht es feuchte Böden. „Die sind nicht überall vorhanden“, sagt Seeber. Ebenso sei das chemische Kitzeln mittels Senf-Wasser kein effektives Extraktionsmittel.

Erdreich
„Graben Sie Böden vorsichtig um“, rät Wurm-Expertin Marion Mittmannsgruber. Gabeln richten weniger Schaden an als Schaufeln

Grünzeug
Lassen Sie Grasschnitt nach dem Mähen liegen, er ist gefundenes Fressen. Auch Mulch schmeckt

Pestizide
„Verzichten Sie auf Pestizide“, sagt Mittmannsgruber. Chemische Schädlingsbekämpfer und Dünger bringen Würmer um

Beleuchtung
Reduzieren Sie künstliches Licht 

Die Studie mit 7.000 Bodenproben aus 57 Ländern – erschienen in Science – kam jedenfalls zu dem Schluss, dass der Artenreichtum zwar in den Tropen am größten, jedoch die Dichte der Regenwürmer in gemäßigten Breiten deutlich höher ist. Das Fazit 2019 lautete: „Der Klimawandel könnte zu starken Veränderungen der Regenwurmgemeinschaften und den von ihnen beeinflussten Ökosystemen führen.“

Erdreich muss tiefgründig sein

Tatsächlich stellen Regenwürmer gewisse Ansprüche an ihren Lebensraum. Das Erdreich muss tiefgründig und nicht zu sauer sein, Pflanzenreste und Samen müssen die dauerhungrigen Destruenten satt machen. Kalte Winter und allzu trockene Sommer überdauern die Ringelwürmer in der Regel zusammengerollt mit reduzierten Körperfunktionen. „Die Frage ist, wie lange sie derartige Extremsituationen überstehen. Die Tiere sind zwar nach ein paar Monaten erwachsen, werden aber einige Jahre alt“, sagt Seeber. Sie vermutet übrigens, dass Niederschlag die „regen Würmer“ an die Oberfläche treibt, damit sie dort Meter machen; Trockenheit bremst die ohnehin langsamen Schleimer aus. Die Theorie, dass die Würmer Überschwemmungen fürchten, hält nicht: Sie atmen über die Haut und überleben so auch unbeschadet auf Tauchstation.

Versiegelt

„Wenn der Boden versiegelt ist, ist es komplett vorbei“, nennt Mittmannsgruber eine weitere Bedrohung für die evolutionär höchst erfolgreichen Spezies. Dringt weder Licht noch Wasser in die Erde, sterben neben Springschwänzen, Milben, Asseln, Insekten und Mikroorganismen auch Würmer aller Art. „Dort, wo Regenwürmer heimisch sind, sind sie natürlich Nützlinge“, sind die Expertinnen einig. Es zahlt sich aus, sie zu fördern – und zu beforschen.

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