Halb Europa träumt vom Tabubruch Schuldenerlass

Europas Regierungen machen in der Corona-Krise Hunderte von Milliarden an zusätzlichen Schulden, um Unternehmen und Arbeitnehmer über Wasser zu halten.

Die Diskussion darüber, wie diese Schulden bezahlt werden sollen und wer dafür einen Beitrag leisten soll, wird in den europäischen Ländern erst im kommenden Jahr richtig Fahrt aufnehmen. Begonnen hat sie aber bereits. Besonders vernehmbar äußern sich dabei diejenigen, die vorschlagen, die Schulden überhaupt nicht mehr zurückzuzahlen.

Jüngst erst meldete sich der laut italienischen Medien einflussreichste Berater von Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte zu Wort. In einem Interview richtete sich Staatssekretär Riccardo Fraccaro direkt an die Europäische Zentralbank (EZB), die in der Corona-Pandemie mit ihrem PEPP-Programm für mehr als 1,35 Billionen Euro Staatsanleihen der Euro-Länder kauft, damit Länder mit prekären Staatsfinanzen weiter frisches Geld bekommen.

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Die EZB solle die Schuldscheine, die sie in der Pandemie von Italien erworben hat, vernichten und auf die Rückzahlung verzichten oder die italienischen Schulden in ewig laufende Anleihen umwandeln, die zwar (Mini-)Zinsen abwerfen, aber nie mehr zurückgezahlt werden müssen, forderte Fraccaro.

„Die EZB hat kein Schuldenproblem – sie kann so viel Geld drucken, wie sie will”, sagte Fraccaro, der dem Koalitionspartner Fünf-Sterne-Bewegung angehört. „Sie kann weiter Staatsanleihen kaufen, den Mitgliedstaaten Investitionen ermöglichen und sie vor dem Markt schützen.”

Es ist das erste Mal, dass aus der italienischen Regierung die Forderung nach einem Schuldenschnitt kommt. Zuvor hatte bereits David Sassoli, der Präsident des Europäischen Parlaments, in einem bei WELT veröffentlichten Interview gesagt, dass ein Schuldenschnitt überlegenswert sei. Jetzt kommt aber aus der italienischen Politik erstmals ein sehr konkreter Vorschlag, welche Schulden gestrichen werden sollen.

Quelle: Infografik WELT

Die Forderung ist verständlich: Auch die italienische Regierung hat die heimische Wirtschaft in der Corona-Krise mit milliardenschweren Hilfsprogrammen unterstützt, während Steuereinnahmen ausgefallen sind. Die EU-Kommission geht denn auch in ihrer jüngsten Konjunkturprognose davon aus, dass die italienischen Staatsschulden in diesem Jahr von 134,7 Prozent der Wirtschaftsleistung auf knapp 160 Prozent in die Höhe schießen.

Italien ist mit dieser sprunghaft gestiegenen Schuldenlast nicht allein. Alle europäischen Finanzminister haben in diesem Jahr in großem Stil neue Schulden gemacht, um die massiven wirtschaftlichen Folgen der Corona-Maßnahmen auszugleichen. Ein einziger Wert illustriert die Wucht der Veränderung in den öffentlichen Finanzen: Die Staatsschulden in der Euro-Zone werden in diesem Jahr im Schnitt erstmals genauso groß sein wie die jährliche Wirtschaftsleistung des Währungsraums.

Ultraniedrige Zinsen machen Schulden derzeit noch beherrschbar

Italien gehört dabei zu einer Gruppe von sieben Ländern, deren Staatsschulden die Wirtschaftsleistung teilweise weit übersteigen: Dazu gehören auch Spanien, Frankreich, Zypern, Belgien, Portugal und Griechenland, wo die öffentlichen Schulden 207 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen.

Weil das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr in allen Ländern stark eingebrochen ist, in vielen sogar zweistellig, ist die Entwicklung der Schulden zwar stark überzeichnet. Und auch die derzeit ultraniedrigen Zinsen sorgen dafür, dass die Schulden beherrschbar bleiben. Trotzdem dürfte vor dem Hintergrund der steigenden Schuldenlast die Diskussion über den Umgang mit den Verbindlichkeiten in den kommenden Monaten noch lauter werden.

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Ex-Chefvolkswirt der EZB

Denn ein Schuldenschnitt wäre für die betroffenen Länder eine große Erleichterung. Das zeigt das Beispiel Italien: Bis zum Ende des Jahres dürften die EZB und die zum Euro-System gehörende Banca d’Italia nach Berechnungen der Bank Berenberg italienische Staatsschulden im Wert von annähernd 550 Milliarden Euro angehäuft haben. Allein 186 Milliarden davon wären dabei nur in diesem Corona-Jahr hinzugekommen.

Nur die Schulden bei der Zentralbank auszuradieren würde Italiens Schuldenlast dramatisch reduzieren: Sie würde nach den Berenberg-Berechnungen auf 128 Prozent der Wirtschaftsleistung sinken. Das ist zwar immer noch viel, aber in einem Handstreich würden Italiens Schulden beherrschbarer. Für Italien, Frankreich und andere stark verschuldete Länder sähe die finanzielle Zukunft auf einen Schlag besser aus.

Schuldenerlass wäre ein Tabubruch

Ökonomen warnen allerdings vor solch einem Schritt. Eine ganze Reihe italienischer Finanzwissenschaftler hat die Politik bereits gewarnt, über einen Schuldenschnitt nachzudenken. Auch Holger Schmieding, der Chefökonom der Berenberg Bank hält derlei Überlegungen für gefährlich. „Öffentliche Schulden bei der Zentralbank zu streichen, könnte furchtbar nach hinten losgehen“, warnt er.

„Damit wäre ein Tabu gebrochen. Investoren könnten es als einen Testlauf für einen weitergehenden Schuldenschnitt betrachten, für den letztlich sie bezahlen müssten.“ Die Folge wären dramatisch höhere Finanzierungskosten für die betroffenen Staaten.

Die italienischen Forderungen stoßen auch in der Politik auf Kritik: „Die hohe italienische Staatsschuld ist nicht das alleinige Ergebnis der Pandemie. Es war über Jahre absehbar, dass die italienische Haushaltspolitik irgendwann zu Problemen führen wird“, sagt etwa Markus Ferber. Der CSU-Politiker ist Sprecher der konservativen EVP-Fraktion im Währungsausschuss des EU-Parlaments.

„Diese Suppe muss nun aber die italienische Regierung und nicht die EZB auslöffeln. Was Italien will, ist de facto eine Staatsfinanzierung durch die Notenbank. Die Erfahrung lehrt, dass das der beste Weg zur Hyperinflation ist.“

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EU-Hilfsprogramme

Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat der Idee, dass die Bank auf die Corona-Schulden verzichten solle, eine Absage erteilt. Vor dem Europäischen Parlament auf die Diskussion angesprochen, sagte sie, dass solch ein Schuldenschnitt illegal sei. Auch der französische Finanzminister Bruno Le Maire hat die Debatte kritisiert. „Schulden werden zurückgezahlt, das ist das Prinzip von Schulden.“

Italiens Schulden drohen endlos zu werden

Gleichwohl nimmt die Debatte weiter an Fahrt auf. Der jüngste Beitrag: Vergangene Woche meldete sich auch George Soros zu Wort, der seinen Nimbus als Investorenlegende vor allem einer erfolgreichen Spekulation gegen das britische Pfund verdankt. Er schlug vor, dass sich die EU-Staaten mit ewigen Anleihen verschulden sollen, für die zwar Zinsen gezahlt werden müssen, bei denen der Kredit aber nicht mehr zurückgezahlt werden muss.

Die finanziell soliden EU-Staaten könnten solche Anleihen begeben, um den Corona-Wiederaufbauplan zu finanzieren, der im Moment von Ungarn und Polen blockiert wird. „Italien gehört nicht zu den Ländern, die das Glück haben, solche Anleihen in ihrem eigenen Namen zu begeben”, sagt Soros.

„Aber das Land braucht deren Vorteile mehr als die anderen Länder.” Deshalb sollten finanzstarke Länder wie Deutschland für Italiens ewige Schulden garantieren. In Rom dürfte er für diesen Vorschlag Zustimmung bekommen.

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